Michael Heinrich
Kommentierte Literaturliste zur
Kritik der politischen Ökonomie
in: Elmar Altvater, Rolf Hecker, Michael Heinrich, Petra Schaper-Rinkel:
Kapital.doc, Münster 1999, S.188-220
Im folgenden werden einige Titel besprochen, die sich während oder nach
der Lektüre des Kapital für eine vertiefte
Beschäftigung mit der Kritik der politischen Ökonomie eignen. Dabei sollen auch
die Diskussionskontexte, in denen diese Schriften stehen, skizziert werden.
Zwar wird die Kritik der politischen Ökonomie dabei eher weit gefaßt, doch ist
damit natürlich nur ein Teilbereich marxistischer Diskussion angesprochen.[1]
Die Auswahl der besprochenen Titel ist notwendigerweise subjektiv: eigene
Vorlieben und beschränkte Kenntnisse lassen sich in einer solchen Zusammenstellung
nicht verleugnen. Zunächst soll aber kurz auf die wichtigsten Werke von Marx
und Engels (hinsichtlich der Kritik der politischen Ökonomie!) eingegangen
werden, da einige von ihnen bei den folgenden Literaturbesprechungen erwähnt
werden.
Geht man von der heute üblichen Einteilung der Wissenschaften aus, dann
lieferte Marx Beiträge zu ganz verschiedenen Disziplinen wie Philosophie,
Geschichte, Politologie, Soziologie oder Ökonomie. Zu seiner Zeit waren viele
dieser Fächer (wie etwa Ökonomie und Soziologie) nicht deutlich getrennt und
sie überlagern sich auch in Marx einzelnen Schriften. Wichtiger als diese frühe
Interdisziplinarität ist jedoch der Anspruch, mit dem Marx schreibt. Er will
die bestehenden Wissenschaften nicht einfach fortsetzen, er will sie vielmehr
kritisieren. Dabei ist das bei Marx zugrunde liegende Verständnis von Kritik erheblich
aufgeladen: es geht nicht um die Kritik bestimmter Positionen oder Theorien innerhalb
dieser Wissenschaften, es geht vielmehr darum, die Fundamente dieser Wissenschaften
(auf denen sich erst bestimmte Theorien erheben) einer radikalen Kritik zu unterziehen
und dies in der praktisch-politischen Absicht, damit einen Beitrag zur Revolutionierung
des bestehenden Gesellschaftssystems zu leisten. Dem theoretischen wie auch dem
praktischen Anspruch blieb Marx zeitlebens treu, diese Ansprüche markieren,
wenn man so will, die Einheit seines Werkes. Die Schwerpunkte seiner theoretischen
Kritik wie auch die dabei verwendeten begrifflichen Konzeptionen unterlagen
jedoch verschiedenen Wandlungen. In der Literatur über Marx ist es umstritten,
ob hinter diesen Wandlungen eine mehr oder weniger kontinuierliche
Weiterentwicklung seiner theoretischen Ansätze steht, oder ob von einem,
vielleicht sogar von mehreren fundamentalen Brüchen in der theoretischen
Entwicklung von Marx ausgegangen werden muß.
1842-1849
Marx hatte in Bonn und Berlin pro forma Jura studiert, sich aber
hauptsächlich mit der Philosophie Hegels und der Junghegelianer sowie mit
Geschichte beschäftigt. In den Jahren 1842/43 war er Redakteur der Rheinischen Zeitung, die als Organ der
liberalen rheinländischen Bourgeoisie der autoritären preußischen Monarchie
gegenüber oppositionell eingestellt war. Dabei kam Marx zum ersten Mal mit
ökonomischen Fragen in Berührung. In seinen Artikeln zeichnete sich ein
bestimmtes Kritikmodell ab: Die Politik des preußischen Staates wurde daran
gemessen, was (entsprechend einer radikalen Auffassung der Hegelschen
Philosophie) das „Wesen“ des Staates ausmacht (nämlich Verwirklichung einer
über den Klasseninteressen stehenden „vernünftigen Freiheit“ zu sein) und
sofern sie diesem Wesen widersprach, wurde sie kritisiert (die Artikel sind
enthalten in MEW 1 und in MEGA2 I/1).
Allerdings kamen Marx immer mehr Zweifel an der Hegelschen
Staatsauffassung, so daß er das Verbot der Rheinischen
Zeitung nutzte, sich intensiver mit der Hegelschen Rechtsphilosophie
auseinanderzusetzen. Dabei wurde er stark von der grundsätzlichen Hegelkritik
Ludwig Feuerbachs beeinflußt, der Hegel vorwarf, die „Ideen“ (wie etwa „die
Vernunft“) zu verselbständigen und in Subjekte zu verwandeln. Demgegenüber sei
stets vom „wirklichen Subjekt“, nämlich „dem Menschen“, auszugehen. Im (von
Marx unveröffentlichten) Manuskript Zur
Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843, MEW 1; MEGA2 I/2)
wird Hegels Staatskonzeption ausgehend von diesem wirklichen Menschen, der bei
Hegel bloße Privatperson geblieben sei, kritisiert und die Demokratie zur
einzigen dem „wirklichen Menschen“ entsprechenden Verfassung erklärt. Damit
zeigt sich bei Marx ein neues Kritikmodell: ausgehend vom „Gattungswesen des
Menschen“ wird die existierende Wirklichkeit als „entfremdet“ (weil diesem
Wesen nicht entsprechend) aufgefaßt und kritisiert. In seiner Schrift Zur Judenfrage (1844, MEW 1; MEGA2
I/2) – ihr Anlaß waren Diskussionen über die Aufhebung der politischen Diskriminierungen
der jüdischen Bevölkerung – stellt Marx der bloß politischen Emanzipation die
menschliche Emanzipation gegenüber. Von der Kritik der politischen Verfassungen
geht Marx jetzt zur Kritik der Politik über: Staat und Politik seien gegenüber
der Gesellschaft verselbständigte Einrichtungen, an denen auch eine politische
Emanzipation nichts ändere. Erst wenn die Menschen diese Verselbständigungen in
ihr wirkliches Leben zurücknehmen könnten, sei die menschliche Emanzipation
erreicht. In der ebenfalls 1844 veröffentlichten Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (MEW 1; MEGA2
I/2) wendet Marx seine Position dann ins praktisch revolutionäre: die „Waffe
der Kritik“ könne die „Kritik der Waffen“, also die praktische Aktion, nicht ersetzen.
Sozialer Träger der Revolution müsse die Klasse mit den „radikalen Ketten“ sein
– das Proletariat.
Da es sich bei dieser Revolution vor allem um die Revolutionierung der
ökonomischen Verhältnisse handelt, konzentriert sich Marx nun auf deren
Analyse. Es entstehen 1844 die Ökonomisch-philosophischen
Manuskripte (MEW 41; MEGA2 I/2, ein von Marx unveröffentlichtes
und unbetiteltes Manuskript, das auch unter dem Titel Nationalökonomie und Philosophie bzw. Pariser Manuskripte publiziert wurde). Bekannt wurde dieser Text
vor allem aufgrund des Abschnitts über die „entfremdete Arbeit“. An der
Nationalökonomie kritisiert Marx nicht nur einzelne Aussagen, sondern die ganze
Art und Weise ihres Vorgehens: daß der moderne Arbeiter in seiner Arbeit von
seinem Gattungswesen entfremdet ist, er mit seinen Gattungskräften nicht sich
selbst verwirklicht, sondern eine ihm gegenüberstehende fremde Macht
produziert, wird von der Nationalökonomie als ganz selbstverständlicher Ausgangspunkt
akzeptiert. Daß der Arbeiter nicht über die Arbeit und deren Produkte und damit
über seine eigenen Kräfte verfügen kann, ist für Marx Ausdruck der „Entfremdung“
des Menschen von seinem menschlichen Wesen. Indem Marx die menschlichen
Wesenskräfte nicht allein in der Sinnlichkeit sieht, sondern in der Arbeit,
geht er über Feuerbachs Auffassung vom Gattungswesen bereits weit hinaus. Inhaltlich
wird das menschliche Wesen also anders bestimmt als bei Feuerbach. Doch das Kritikmodell,
die gesellschaftliche Wirklichkeit an einem (wie auch immer bestimmten)
menschlichen Wesen zu messen, Kritik damit an eine bestimmte Anthropologie zu
knüpfen, folgt nach wie vor dem Feuerbachschen Argumentationsmuster.
Die Vorstellung eines menschlichen Gattungswesens wurde dann 1845/46 in
der gemeinsam mit Engels verfaßten Deutschen
Ideologie (sowie in den Marxschen Thesen
über Feuerbach, beides in MEW 3) einer herben Kritik unterworfen (Marx
selbst sprach 1859 im Vorwort von Zur
Kritik der politischen Ökonomie [MEW 13, MEGA2 II/2] davon, daß
es darum gegangen sei, „mit unserm ehemaligen philosophischen Gewissen abzurechnen“,
allerdings überließen sie das Manuskript der „nagenden Kritik der Mäuse“). Ahistorische
Begriffe des menschlichen Wesens werden jetzt grundsätzlich verworfen und damit
auch die Vorstellung einer „Entfremdung“ von diesem Wesen. Statt dessen sollen
die wirklichen, historisch veränderlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, in
denen die Menschen leben und arbeiten, untersucht werden. In der Literatur über
Marx gibt es allerdings einen heftigen Streit darüber, ob die Feuerbachthesen und die Deutsche Ideologie tatsächlich einen
einschneidenden Bruch zwischen dem Werk des „jungen“ und dem des „späten Marx“
darstellen oder ob es sich um eine eher kontinuierliche Fortentwicklung
handelt, in der auch die Entfremdungskonzeption noch einen Platz behält.[2]
In jedem Fall ist in den nun folgenden Schriften nur noch äußerst selten
von Entfremdung die Rede. In der 1847 veröffentlichten Schrift Misère de la Philosophie (Elend der Philosophie, MEW 4) kritisiert
Marx die Vorstellungen des französischen Sozialisten Pierre-Joseph Proudhon
unter Bezugnahme auf die ökonomische Theorie David Ricardos. Im 1848
erschienenen Kommunistischen Manifest (MEW
4), der von Marx und Engels für den „Bund der Kommunisten“ verfaßten
Programmschrift, wird dann ein Abriß der Geschichte als einer Geschichte von
Klassenkämpfen gegeben: die Bourgeoisie habe sich als höchst revolutionäre
Klasse erwiesen, indem sie die feudalen Fesseln beseitigt, alle Verhältnisse
der alten Gesellschaft umgewälzt und die Produktivkräfte in bisher ungekanntem
Ausmaß entwickelt habe. Allerdings würden diese Produktivkräfte über die Möglichkeiten,
der lediglich am individuellen Profit orientierten Bourgeosie hinauswachsen,
Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse würden nicht mehr zusammen passen.
Mit der kapitalistischen Produktionsweise entwickle sich aber auch das
Proletariat, dessen historische Aufgabe darin bestehe, die Herrschaft der
Bourgeoisie zu stürzen und sich die von der Bourgeoisie entwickelten
Produktivkräfte in einer Weise anzueignen, die nicht mehr durch das Gewinnstreben
beschränkt sei.
Nach der Niederschlagung der Revolution von 1848 mußte Marx aus
Deutschland fliehen und übersiedelte schließlich nach London. Dort befindet er
sich nicht nur im Zentrum der damaligen kapitalistischen Entwicklung, er kann
auch auf die riesige Bibliothek des British Museum zurückgreifen. Ab 1850 nimmt
er seine ökonomischen Studien wieder auf und plant, eine große „Kritik der
politischen Ökonomie“ zu verfassen. Nach einer Reihe von Exzerptheften zur
ökonomischen Literatur (MEGA2 IV/7-11) entsteht im Sommer 1857 ein
mit Einleitung (MEW 42; MEGA2
II/1.1) betiteltes Manuskript. Es enthält eine ganze Reihe wichtiger (und immer
wieder zitierter) methodischer Überlegungen zu dem geplanten Werk. Allerdings
darf es nicht als Marx letztes Wort zur Methode betrachtet werden, da es vor
der eigentlichen Arbeit entstanden ist und sich Marx methodische Überlegungen
mit der zunehmenden Durchdringung des Stoffs veränderten. 1857/58 entstand dann
ein umfangreiches von Marx unbetiteltes Manuskript, das erstmals 1939/41 unter
dem Titel Grundrisse der Kritik der politischen
Ökonomie (Rohentwurf) veröffentlicht wurde (MEW 42; MEGA2
II/1.1-1.2). Im Verlauf der Arbeit an diesem Manuskript bildet sich der berühmte
6-Bücher Plan (Kapital, Grundeigentum, Lohnarbeit, Staat, Außenhandel, Weltmarkt)
sowie die Unterscheidung zwischen der Darstellung des „Kapitals im Allgemeinen“
und der „Konkurrenz der vielen Kapitalien“ heraus.
1859 veröffentlichte Marx als Anfang des geplanten Werkes einen schmalen
Band Zur Kritik der politischen Ökonomie.
Erstes Heft (MEW 13, MEGA2 II/2). Viel zitiert wird das Vorwort
dieser Schrift, weil es eine extrem konzentrierte Fassung der
„materialistischen Geschichtsauffassung“ anbietet. Allerdings sollte dieser
Text gerade wegen seiner Konzentration (noch dazu in einem Vorwort) auch nicht
überbewertet werden. Die Schrift selbst behandelt nur Ware und Geld innerhalb
der einfachen Zirkulation, also den Inhalt der ersten drei Kapitel des Kapital wie er in MEW 23 vorliegt, aber
in etwas anderer Darstellung, so daß hier eine wichtige Ergänzung zum Kapital vorhanden ist. Aus dem Jahre
1858 ist auch das Fragment eines Entwurfs dieser Schrift erhalten geblieben
(veröffentlicht unter dem Titel Urtext
zur Kritik der politischen Ökonomie MEGA2 II/2), das vor allem
aufgrund des Abschnitts Übergang vom Geld
ins Kapital interessant ist, der weder in die Schrift von 1859 noch ins
später erschienene Kapital aufgenommen
wurde.
Von 1861-1863 entstand (zunächst als Fortsetzung des ersten Heftes) ein
umfangreiches, ebenfalls Zur Kritik der
politischen Ökonomie betiteltes Manuskript (MEGA2 II/3.1-3.6;
MEW 43 enthält den ersten Teil). Aus dem Entwurf für das nächste zu veröffentlichende
Heft wurde aber bald ein Marxsches Forschungsmanuskript mit einer ganzen Reihe
von Einschüben und Abschweifungen. Da Marx damals noch plante, nach der Darstellung
der jeweiligen Grundkategorien eine Geschichte ihrer Behandlung in der bürgerlichen
ökonomischen Theorie folgen zu lassen, gibt es auch einen umfangreichen theoriegeschichtlichen
Teil (der unter dem Titel Theorien über
den Mehrwert veröffentlicht wurde, MEW 26.1-26.3, entspricht MEGA2
II/3.2-3.4). Allerdings ist dies keine reine Theoriegeschichte (auch nicht der
„4. Band des Kapital“, wie es im Untertitel der MEW-Ausgabe heißt), sondern
Bestandteil des Marxschen Selbstverständigungsprozesses über die Grundkategorien
bürgerlicher Ökonomie.
Während der Arbeit an diesem Manuskript faßte Marx den Plan, keine
Fortsetzung der Schrift von 1859, sondern ein selbständiges Werk mit dem Titel Das Kapital in drei Büchern (dem noch
ein viertes theoriegeschichtliches folgen sollte) herauszubringen. Erneut
entstand 1864/65 ein umfangreiches Manuskript. Dabei blieb vom Text für den
ersten Band lediglich ein in den 1867 publizierten Band nicht aufgenommenes
Schlußkapitel (Resultate des unmittelbaren
Produktionsprozesses, MEGA2 II/4.1) erhalten. Die Manuskripte
für die Bände zwei und drei sind in MEGA2 II/4.1 und MEGA2
II/4.2 enthalten.
Vom Kapital veröffentlichte
Marx selbst lediglich den ersten Band, 1867 in erster und 1872 in zweiter
Auflage (MEGA2 II/5, MEGA2 II/6). Die zweite Auflage ist
erheblich detaillierter gegliedert als die erste, sie unterscheiden sich aber
auch im Text des Abschnitts über die Wertformanalyse. Für ein tieferes
Verständnis dieses für die Marxsche Werttheorie so wichtigen Abschnitts sollte
unbedingt der Text der ersten Auflage mitberücksichtigt werden. Als Vorbereitung
für die zweite Auflage entstand 1871/72 ein Überarbeitungsmanuskript, das
wichtige Überlegungen zur Werttheorie enthält, die so aber nicht ins Kapital aufgenommen wurden (MEGA2
II.6, vor allem S.29-32). Neben dem Marxschen Briefwechsel (vgl. die Sammlung
Karl Marx, Friedrich Engels, Über 'Das
Kapital'. Briefwechsel, Berlin 1985) sind vor allem noch die zwischen 1879
und 1881 entstandenen Randglossen zu
Adolph Wagners 'Lehrbuch der politischen Ökonomie' (MEW 19) relevant: Hier
kommentiert Marx in Auseinandersetzung mit Wagner stellenweise seine eigene
Darstellung zu Beginn des ersten Bandes des Kapital,
was äußerst instruktiv ist.
Die dritte (1883, MEGA2 II/8) und vierte (1890, MEW 23; MEGA2
II/10) Auflage des ersten Bandes wurden von Engels herausgegeben, wobei er
einen Teil der in der französischen Ausgabe (1872-75, MEGA2 II/7)
von Marx vorgenommenen Veränderungen übernahm, einen anderen Teil jedoch nicht,
so daß hier bereits ein nicht mehr von Marx selbst redigierter Text vorliegt.
Auch der zweite (1884, MEW 24) und der dritte Band (1894, MEW 25) des Kapital wurden erst von Engels
herausgegeben. Den zweiten Band des Kapital
stellte er aus sieben Manuskripten zusammen, die Marx nach 1867 verfaßt hatte.[3]
Für den dritten Band stützte sich Engels vor allem auf das 1864/65 entstandene,
oben bereits erwähnte Manuskript (MEGA2 II/4.2). Vergleicht man
dieses Manuskript mit der Engelsschen Edition (MEW 25) wird deutlich, daß
Engels sowohl durch eine im wesentlichen von ihm vorgenommene Untergliederung
(die meisten Überschriften stammen von Engels), durch Textumstellungen und Weglassungen,
wie auch durch Textveränderungen erheblich in den Marxschen Text eingegriffen
hat. Er hat ihn damit zwar lesbarer gemacht, zugleich aber auch den Eindruck
erweckt als sei die Durchdringung des Stoffes weiter vorangeschritten als dies
tatsächlich der Fall war. Stellenweise wurde auch der Sinn der Marxschen
Aussagen verändert. Für einen ersten Zugang zum Kapital kann zwar noch auf Engels Ausgabe (also MEW 25)
zurückgegriffen werden, bei einer intensiveren Auseinandersetzung sollte aber
unbedingt das Marxsche Originalmanuskript (MEGA2 II/4.2) benutzt werden.[4]
Von Marx selbst liegen seit 1857 also drei große ökonomische Manuskripte
vor: die Grundrisse von 1857/58, das
Manuskript von 1861-63 und das Manuskript von 1864/65. Im Rahmen der Kommentierung
der MEGA2 werden diese drei Manuskripte häufig als drei „Entwürfe“
des Kapital bezeichnet. Tatsächlich
läßt sich in allen drei Manuskripten dieselbe grobe Gliederung der drei Bände
des Kapital nachweisen:
Produktionsprozeß des Kapitals, Zirkulationsprozeß des Kapitals, Gesamtprozeß.
Trotzdem erscheint es fragwürdig hier von drei Entwürfen des Kapital zu sprechen: nicht nur weil
dieser Titel erstmals im Dezember 1862 auftaucht, sondern vor allem deshalb,
weil damit zwei fragwürdige Annahmen nahegelegt werden: (1) Marx habe bereits
1857 ein bestimmtes fertiges Ziel, das Kapital,
gehabt; (2) dieses Ziel habe er dann immer besser realisiert (womöglich noch
mit der – letzten Endes von Engels geprägten – Fassung wie sie in MEW 23-25
vorliegt, als endgültiger Gestalt).
Beide Auffassungen sind aber höchst problematisch. Was die Vorstellung
einer ständigen Verbesserung angeht (Annahme 2), so ist zu berücksichtigen, daß
in den später entstandenen Manuskripten neben einer besseren Erfassung
einzelner Sachverhalte auch das Bemühen um Popularisierung (auf Kosten einer
strengen Darstellung) eine Rolle spielt, so daß die spätere Fassung im Ganzen
nicht automatisch die bessere sein muß. Und was das Ziel der Darstellung
betrifft (Annahme 1), so bleibt außer Betracht, daß Marx 1857 eine Kritik der
politischen Ökonomie in sechs Büchern plante und daß nicht von vornherein
ausgemacht ist, in welchem konzeptionellen Verhältnis das ab Ende 1862 geplante
Kapital zu dem ursprünglichen
6-Bücher Plan steht. Ist das Kapital
nur eine Teilausführung dieses Plans oder gibt es eine völlig neue Konzeption?
Damit in Zusammenhang steht auch die Frage nach der Bedeutung der
Unterscheidung von „Kapital im Allgemeinen“ und „Konkurrenz der vielen Kapitalien“:
sie bildet sich bei Marx während seiner Arbeit an den Grundrissen heraus, wird auch im Manuskript von 1861-63, sowie im
Briefwechsel dieser Zeit häufig benutzt, der Begriff des „Kapital im
Allgemeinen“ taucht aber nach 1863 weder in den verschiedenen Manuskripten zum Kapital noch im Briefwechsel auf, so daß
man bezweifeln kann, daß das hinter dem Begriff „Kapital im Allgemeinen“
stehende methodische Konzept auch noch für das Kapital (wie es sich seit 1863 herausbildet) relevant ist.[5]
II.
Friedrich Engels (1820-1895)
Früher als Marx beschäftigte sich Engels mit ökonomischen Fragen: aus
seinen Umrisse zur Kritik der Nationalökonomie
(1843, MEW 1; MEGA2 I/3) und seiner Schrift Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845, MEW 2) erhielt
Marx wertvolle Anregungen. Deutsche
Ideologie und Kommunistisches
Manifest stellten dann Gemeinschaftsarbeiten von Marx und Engels dar.
Während sich Marx aber nach 1850 fast ausschließlich seinem Projekt einer Kritik
der politischen Ökonomie zuwandte, beschäftigte sich Engels vorwiegend mit
historischen und ab 1870 mit naturwissenschaftlich/naturphilosophischen Fragen
(vgl. seine unter dem Titel Dialektik der
Natur herausgegebenen nachgelassenen Manuskripte, MEW 20; MEGA2
I/26).
Für die Kritik der politischen Ökonomie wurde er (neben seiner
Herausgabe des zweiten und dritten Bandes des Kapital, MEW 24, MEW 25) vor allem durch drei Schriften wichtig.
Auf Drängen von Marx verfaßte Engels 1859 eine Rezension von Zur Kritik der
politischen Ökonomie. Erstes Heft (MEW 13), die vor allem durch ihre
Charakterisierung der Marxschen Darstellungsmethode berühmt wurde: die
„logische“ Abfolge der Kategorien sah Engels in der historischen Entwicklung
des Kapitalismus begründet. Zwar hat sich Marx nie zu dieser Rezension
geäußert, doch läßt sich bezweifeln, daß er Engels Auffassung vollständig
teilte.[6]
In eine ähnliche Richtung wie diese Rezension zielte auch Engels Vorwort zum
dritten Band des Kapital sowie sein
Text Wertgesetz und Profitrate, der ebenfalls
in MEW 25 veröffentlicht ist: Dort interpretierte Engels die von Marx zu Beginn
des Kapital dargestellte „einfache Zirkulation“
(das Verhältnis von Ware und Geld als abstrakte Sphäre des kapitalistischen Reproduktionsprozesses)
als Darstellung einer vorkapitalistischen „einfachen Warenproduktion“ (ein Ausdruck
und eine historische Konstruktion, die von Marx nirgendwo verwendet werden).
Aus der logisch-begrifflichen Beziehung der Kategorien des entwickelten
Kapitalverhältnisses, d.h. einer Untersuchung der Form der kapitalistischen
Produktionsweise als solcher, wird eine gestraffte Erzählung der Geschichte
ihrer Entwicklung, eine Auffassung, die sich dann im parteioffiziellen
Marxismus sowohl der älteren Sozialdemokratie wie auch der kommunistischen
Parteien durchsetzte.
Den größten Einfluß auf die Rezeption des Marxismus hatte Engels Anti-Dühring (MEW 20, MEGA2
I/27): Eigentlich eine Streitschrift gegen den Berliner Philosophen Eugen Dühring,
behandelt Engels hier philosophische, politische und ökonomische Fragen in einer
polemischen und zugleich popularisierenden Weise. Was von Engels eine (ungern
übernommene) Gelegenheitsarbeit war, wurde in der Folge zur „Bibel des
Marxismus“, in der angeblich auf höchstem wissenschaftlichen Niveau fundamentale
Einsichten des Marxismus niedergelegt seien. Dabei kann allerdings mit guten
Gründen bezweifelt werden, ob die hier zu einem begrenzten Zweck – der Auseinandersetzung
mit Dühring – vorgenommenen Vereinfachungen (etwa bei der Darstellung der
Dialektik) mit der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie verträglich sind.[7]
III.
Literatur zur Kritik der politischen Ökonomie im 20. Jahrhundert
Die folgende Darstellung ist nicht rein chronologisch, vielmehr habe ich
mich an einzelnen, sehr grob umrissenen Diskussionssträngen orientiert und
versucht, diese im Zusammenhang zu skizzieren. Dabei muß aber stets beachtet
werden, daß es sich bei der verwendeten Einteilung nur um ein erstes Orientierungsmittel
handelt. Die skizzierten Debatten sind natürlich immer vor dem Hintergrund der
jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen zu sehen, vor allem
den Hoffnungen und (viel häufigeren) Niederlagen der Linken. Auf diese überaus
wichtigen Kontexte kann im folgenden aber nicht weiter eingegangen werden.
Das Marxsche Kapital wird hier
vor allem als mehr oder weniger fachökonomisches Werk verstanden, das andere
ökonomische Theorien kritisiert, die Ausbeutung der Arbeiterklasse aufzeigt und
im Unterschied zu den harmonischen Auffassungen der bürgerlichen Theorien eine
dem Kapitalismus innewohnende Tendenz zu Krisen und in einigen Interpretationen
auch zum Zusammenbruch nachweist. Daß Marx aber noch weit mehr anstrebt, daß er
nicht nur einzelne Theorien, sondern eine Wissenschaft als Ganzes kritisieren
und den von den bürgerlichen Verhältnissen hervorgebrachten Waren- Geld- und
Kapitalfetischismus enthüllen will,
wird dabei in vielen Beiträgen ausgeblendet, so daß auch wichtige, über die
bloße Ökonomie hinausgehende gesellschaftstheoretische Aspekte des Marxschen
Werkes häufig nur unzureichend berücksichtigt werden.
Den Anfang in dieser Reihe machte die populäre Zusammenfassung des
ersten Bandes des Kapital von Karl
Kautsky Karl Marx Oekonomische Lehren.
Gemeinverständlich dargestellt und erläutert (1887, Bonn 1980). Die bereits
von Engels angestoßene historisierende Interpretation wird hier weitergeführt.
Das Marxsche Kapital erscheint als
Darstellung der Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus, die Formanalyse wird
in den Hintergrund gedrängt. Zugleich wird der Eindruck vermittelt, als sei das
Kapital mit dem ersten Band bereits
weitgehend abgeschlossen. Auch nachdem alle drei Bände erschienen waren,
beschränkte sich die Rezeption in breiteren Kreisen der Arbeiterbewegung auf
den ersten Band (bzw. eine Zusammenfassung davon). Die Bände zwei und drei
galten als Literatur für wissenschaftliche Experten.
Im Rahmen einer historisierenden Auffassung der Marxschen Kritik der
politischen Ökonomie bewegen sich dann auch die großen theoretischen
Kontroversen in der Arbeiterbewegung um die Jahrhundertwende. Eduard Bernstein
(Die Voraussetzungen des Sozialismus und
die Aufgaben der Sozialdemokratie, 1899; Bonn, 1973) gesteht Marx zwar zu,
daß er den Kapitalismus seiner Zeit richtig analysiert habe, die weitere
Entwicklung sei aber anders verlaufen als von Marx vorhergesagt: die Mittelklassen
hätten nicht abgenommen, sondern eher zugenommen, die Arbeiterklasse sei nicht
verelendet, sondern habe ihre Lage langsam verbessern können und statt zu immer
schärferen Klassenkämpfen, sei es zu einer zumindest eingeschränkten
politischen Repräsentation der Arbeiterbewegung gekommen. Bernstein zog daraus
die Konsequenz, daß die Sozialdemokratie nicht mehr die Revolution, sondern die
Sozialreform anstreben solle, womit er den „Revisionismusstreit“ auslöste. Genauso
stadientheoretisch dachten aber auch seine (sich als „orthodox“ begreifenden)
Kritiker, Karl Kautsky (Bernstein und das
sozialdemokratische Programm, 1899; Bonn, 1976) und Rosa Luxemburg (Sozialreform oder Revolution, 1899;
Gesammelte Werke Bd. 1/1, Berlin, 1970) nur sahen sie in den neuen Phasen des
Kapitalismus eine organische Fortsetzung der schon von Marx untersuchten Entwicklungen,
die keine grundsätzliche Revision der revolutionären Ziele erfordern würde.[8]
Für die dann folgenden Debatten spielten vor allem drei Arbeiten eine
wichtige Rolle: Rudolf Hilferding Das
Finanzkapital (1910; Ffm., 1968), Rosa Luxemburg Die Akkumulation des Kapitals (1913; Gesammelte Werke Bd. 5,
Berlin, 1975) und W.I. Lenin Der Imperialismus
als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917; Lenin Werke Bd. 22, Berlin,
1960). Hilferding versuchte die Marxsche Geldtheorie und die im dritten Band
des Kapital nur unvollständig entwickelte
Kredittheorie zu systematisieren und auf die Untersuchung des „Finanzkapitals“,
der Verschmelzung von industriellem Kapital und Bankkapital anzuwenden. Trotz
mancher Defizite stellt Hilferdings Buch einen wichtigen Beitrag zu einer marxistischen
Theorie des Kredits und des Aktienkapitals dar. Luxemburg und Lenin hatten
weiter gesteckte Ziele, sie wollten die ökonomischen Wurzeln des
„Imperialismus“ (so wurde die jüngste Phase des Kapitalismus genannt), der sich
vor allem durch einen gewalttätigen Expansionsdrang der entwickelten
kapitalistischen Länder und die Bildung von Kolonialreichen auszeichnete,
analysieren. Rosa Luxemburg sah das imperialistische Expansionsstreben darin
begründet, daß aufgrund der beständigen Kapitalakkumulation der von Arbeitern
und Kapitalisten gebildete (innere) Markt stets zu klein sei, um ausreichenden
Absatz und entsprechende Profite zu gewährleisten. Die Eroberung äußerer Märkte
sei für das Kapital daher zwingend notwendig, schaffe aber nur zeitweilig
Abhilfe, da nach deren Durchkapitalisierung auch die neuen Märkte zu klein
seien. Die kapitalistischen Länder müßten in einer begrenzten Welt beständig expandieren,
was (sofern es nicht vorher zur Revolution komme) notwendigerweise zu Kriegen
und zum schließlichen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems führen würde.[9]
Lenin erklärte die Entstehung des Imperialismus dagegen aus dem Übergang vom
„Konkurrenzkapitalismus“ (den Marx analysiert habe) zum „Monopolkapitalismus“
(der sich nach Marx Tod herausgebildet habe). Aufgrund der Monopolisierung habe
der Kapitalismus an innerer Dynamik verloren (er sei „verfaulend“). Durch die
Ausbeutung fremder Länder sichere er sich aber Extraprofite, die auch die
„Bestechung“ einer „Arbeiteraristokratie“ erlauben würde.[10]
Lenins Imperialismustheorie[11]
wurde im Rahmen des „Marxismus-Leninismus“[12],
der in der Sowjetunion und den kommunistischen Parteien bald als offizielle
Doktrin galt, zur Theorie des „staatsmonopolistischen Kapitalismus“ (Stamokap)
fortgebildet: demnach würde nicht das Wertgesetz, sondern eine Koalition von
Staat und Monopolen die kapitalistische Wirtschaft (schon weitgehend bewußt)
beherrschen. Damit sei aber auch die definitiv letzte Phase kapitalistischer
Entwicklung erreicht. Auf die im Rahmen dieses Ansatzes unerwartete
Stabilisierung des Kapitalismus in den 20er reagierte vor allem Eugen Varga mit
dem Konzept einer „allgemeinen Krise des Kapitalismus“: die Stabilisierung und
der ökonomische Aufschwung widerlege nicht, daß der Kapitalismus bereits in
seiner Niedergangsperiode angekommen sei, da der Aufschwung nur durch ungeheure
Destruktionsprozesse ermöglicht werde (wichtige Texte Vargas sind gesammelt in:
Eugen Varga, Die Krise des Kapitalismus
und ihre Folgen, Ffm 1969). Auch nach dem 2. Weltkrieg beherrschte die
Stamokap-Theorie die Kapitalismusanalyse in den realsozialistischen Ländern des
Ostens und in den kommunistischen Parteien des Westens.[13]
Das Verhältnis von Wertgesetz, Staatskapitalismus und sozialistischer
Planung war auch für die in den 20er Jahren geführten Debatten über den Aufbau
des Sozialismus in der Sowjetunion von zentraler Bedeutung. Während Lenin den
Sozialismus als unmittelbare Fortsetzung eines staatskapitalistischen Monopols
auffaßte, das jetzt aber im Interesse des Volkes und nicht nur einer kleinen
Schicht angewendet würde (vgl. neben Staat
und Revolution auch Die drohende
Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll, 1917, beide in: Lenin Werke Bd. 25, Berlin 1960), setzte
Bucharin nach der Übernahme der „Kommandohöhen“ in Großindustrie, Banken und
Außenhandel durch die Bolschewiki auf eine langsame Transformation der
verbleibenden Privatwirtschaft (Nikolai Bucharin, Ökonomik der Transformationsperiode, 1920, Berlin 1990). Dagegen
betonte Preobrashenskij mit seiner Konzeption der „ursprünglichen
sozialistischen Akkumulation“ – durch die Abschöpfung des privatkapitalistischen
Mehrprodukts sollte die Industrialisierung (im verstaatlichten Sektor)
vorangetrieben werden – die Bedeutung der zentralen Planung (E.A.
Preobrashenskij, Die neue Ökonomik,
1926, Berlin 1970, weitere Analysen sind gesammelt in: E.A. Preobazhensky, The Crisis of Soviet Industrialization,
London 1980).
Auch außerhalb des parteioffiziellen „Marxismus-Leninismus“ wurde die
Debatte über die Entwicklung des Kapitalismus fortgesetzt. Fritz Sternberg nahm
in Der Imperialismus, Berlin, 1926
die Argumentation von Rosa Luxemburg wieder auf. Henryk Grossmann, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz
des kapitalistischen Systems, Leipzig, 1929 setzte sich mit der ganzen
bisherigen Krisendiskussion auseinander und versuchte eine Zusammenbruchstheorie
zu begründen, die auf dem „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ beruhte,
das Marx im dritten Band des Kapital
dargestellt hatte. Natalie Moszkowska (Zur
Kritik moderner Krisentheorien, Prag, 1935 und Zur Dynamik des Spätkapitalismus, Zürich, 1943) kritisierte sowohl
Sternberg wie Grossmann. Sie versuchte ebenfalls im Anschluß an den dritten
Band des Kapital die Krisentendenzen
aus der „Überakkumulation“ von Kapital zu begründen.
Überakkumulationstheoretisch und ganz im Rahmen der skizzierten Debatten argumentiert
auch Paul Mattick (Krisen und Krisentheorien,
Ffm., 1974).[14]
Eine stadientheoretische Auffassung des Kapitalismus findet sich
ebenfalls in dem weit verbreiteten Buch von Paul M. Sweezy Theorie kapitalistischer Entwicklung (1942, Ffm. 1970). Ausgehend
von einer Darstellung der Marxschen Wert-, Akkumulations- und Krisentheorie
geht Sweezy auf viele wichtige theoretische Debatten ein und skizziert auch
eine Analyse von Imperialismus und Faschismus. Mit diesem Buch beeinflußte
Sweezy nachhaltig die angelsächsische Diskussion, konzentrierte sie allerdings
auch auf eine vor allem quantitativ verstandene Werttheorie, die die spezifische
Formproblematik, wie sie in der Wertformanalyse auftauchte, weitgehend ignorierte.
Dementsprechend gering war in solchen Debatten auch das Interesse an Fragen der
Geldtheorie. Ähnlich wie in der Neoklassik wurde die monetäre Sphäre eher als
eine Art von Schleier betrachtet, hinter der die „realen“ wirtschaftlichen
Prozesse vorgehen. In dieser Interpretationstradition stehen auch die wichtigen
theoriegeschichtlichen Untersuchungen von Ronald L. Meek, Studies in the Labor Theory of Value (1956) und Ökonomie und Ideologie (Ffm. 1967) sowie
Maurice Dobb, Wert- und Verteilungstheorien
seit Adam Smith (Ffm., 1973).
Eine nur noch indirekt an Marxsche Kategorien anknüpfende Analyse des
US-amerikanischen Kapitalismus, in deren Mittelpunkt die monopolistische
Produktion und Konsumtion des „Surplus“ (des gesellschaftlichen Mehrprodukts)
stand, legte Sweezy dann in den 60er Jahren gemeinsam mit Paul A. Baran vor (Monopolkapital, Ffm., 1967). Dieses Buch
stieß auf vielfältige Kritik. Eine Sammlung wichtiger Beiträge zur Diskussion
findet sich in Monopolkapital. Thesen zu
dem Buch von Paul A. Baran und Paul M. Sweezy (Ffm., 1969).
Ebenfalls stadientheoretisch (und stark an Lenins Imperialismustheorie
orientiert) sind die Arbeiten von Ernest Mandel, Marxistische Wirtschaftstheorie (Ffm., 1968), Der Spätkapitalismus (Ffm., 1972), der ähnlich wie in Sweezys
frühem Werk die Darstellung der Marxschen Grundkategorien zu einer Geschichte
der Entwicklung des Kapitalismus im 20. Jahrhundert ausweitet. Von Mandel gibt
es auch eine Skizze der Herausbildung der Marxschen Theorie, die allerdings nur
bis zum Jahr 1863 reicht (Entstehung und
Entwicklung der ökonomischen Lehre von Karl Marx, Ffm., 1968).
Einen eigenständigen japanischen Beitrag zur ökonomischen Debatte über
das Kapital begründeten die Arbeiten
von Kozo Uno (Principles of Political
Economy. Theory of a Purely Capitalist Society, 1964), der innerhalb der
Marxschen Analyse Theorien verschiedener Reichweite unterschied. Jüngere
Beiträge in der Tradition Unos stammen von Makato Itoh, Value and Crisis (Pluto, 1980), The
Basic Theory of Capitalism (Macmillan, 1988).
Seit den 70er Jahren wandte sich die Aufmerksamkeit auch verstärkt der
bislang weitgehend vernachlässigten Marxschen Geld- und der (im dritten Band
des Kapital nur unvollständig
ausgearbeiteten) Kredittheorie zu. Eine Gesamtdarstellung der „ökonomischen“
Aspekte der Marxschen Geld- und Kredittheorie (weitgehend unberücksichtigt
blieb die Wertformanalyse) lieferte Suzanne de Brunhoff, Marx on Money, New York 1976 (frz. Paris 1973), der eine
Weiterentwicklung folgte: The State,
Capital, and Economic Policy (London 1978). Mit dem real- und
theoriegeschichtlichen Hintergrund der Marxschen Kredittheorie beschäftigt sich
Michael Burchardt, Die Currency-Banking
Kontroverse, in: Mehrwert 12,
1977. Grundsätzliche Debatten über die Marxsche Geldtheorie bei denen es um die
Bedeutung der Existenz einer Geldware für die Konsistenz der Theorie und später
auch um den Zusammenhang von Geld- und Krisentheorie ging, wurden vor allem im
angelsächsischen Raum geführt: Duncan Foley, On Marx's Theory of Money; David P. Levine, Two Options for the Theory of Money (beide Beiträge in: Social Concept, vol.1, no.1, 1983); J.
Crotty, The Centrality of Money, Credit,
and Financial Intermediation in Marx's Crisis Theory, in: S.Resnick,
R.Wolff (eds.), Rethinking Marxism,
New York, 1985; Geert Reuten, The Money
Expression of Value and the Credit System: A Value-Form Theoretic Outline,
in: Capital & Class 35, 1988.
Einen überwiegend kritischen Beitrag zur Marxschen Geldtheorie (aus
keynesianischer Perspektive) lieferten Michael Heine, Hansjörg Herr, Der esoterische und der exoterische
Charakter der Marxschen Geldtheorie – eine Kritik, in: A.Schikora u.a.
(Hrsg.), Politische Ökonomie im Wandel,
Marburg, 1992.
Die moderne „bürgerliche“ ökonomische Theorie, vor allem die Neoklassik,
arbeitet mit hoch formalisierten, mathematischen Modellen. Daher fehlt es auch
nicht an Versuchen, Marxsche Argumentationen in mathematische Modelle zu
„übersetzen“. Recht kurzgefaßt ist Nobuo Okishio, Ein mathematischer Kommentar zu Marxschen Theoremen, in: H.G.
Nutzinger/ E. Wolfstetter (Hrsg.), Die
Marxsche Theorie und ihre Kritik, 2 Bde., Ffm., 1974, sehr ausführlich sind
dagegen Michio Morishima, Marx's
Economics. A Dual Theory of Value and Growth (Cambridge, 1973) und Michio
Morishima, George Catephores, Value,
Exploitation and Growth. Marx in the Light of Modern Economic Theory (London,
1978). Um eine formalisierte Darstellung von grundlegenden Marxschen Konzepten wie
abstrakte Arbeit, Wertform etc., bemühte sich auch Ulrich Krause, Geld und abstrakte Arbeit (Ffm., 1979).
In einer Reihe von neueren Arbeiten wurde – von ganz unterschiedlichen
Ausgangspunkten aus – versucht, Verbindungslinien zwischen Marxschen Problemstellungen
und den Debatten der modernen ökonomischen Theorie herzustellen. Ohne Anspruch
auf Vollständigkeit seien hier nur einige interessante Arbeiten genannt: P.
Kenway, Marx, Keynes, and the Possibility
of Crisis, in: Cambridge Journal of
Economics, vol. 4, 1980; J. Crotty, Marx,
Keynes, and Minsky on the Instability of the Capitalist Growth Process and the
Nature of Government Economic Policy, in: S.W. Hellburn, D.F. Bramhall
(eds.), Marx, Keynes, Schumpeter: A Centennial
Celebration of Dissent, New York, 1986; Karl Betz, 'Kapital' und Geldkeynesianismus, in: PROKLA 72, 1988; Arnie Arnon, Marx,
Minsky, and Monetary Economics, in: G.Dymski, R.Pollin (eds.), New Perspectives in Monetary Economics,
Ann Arbor, 1994; Eckhard Hein, Karl Marx,
ein klassischer Ökonom?, in: PROKLA
110, 1998; Klaus Schabacker, Die moderne
ökonomische Theorie und die Kapitaltheorie von Marx, in: PROKLA 111, 1998.
Substantielle Kritiken am Kapital
beginnen erst nach Erscheinen des dritten Bandes.[15]
Den Auftakt machte Eugen von Böhm-Bawerk, ein wichtiger Vertreter der
österreichischen Schule der Grenznutzentheorie, mit Zum Abschluß des Marxschen Systems (1896). Er konzentrierte seine
Kritik auf die Werttheorie zu Beginn des ersten Bandes des Kapital und auf die Darstellung der Verwandlung von Werten in
Produktionspreise (die jedem Einzelkapital die Erzielung einer gleichen
Durchschnittsprofitrate ermöglichen) im dritten Band. Damit wollte er einerseits
das theoretische Fundament der ganzen Argumentation, andererseits die Erklärung
der empirischen Phänomene mit Hilfe dieses Fundaments kritisieren. Gäbe man
nämlich diese beiden Punkte zu, dann – so Böhm-Bawerk – wäre alles andere
unangreifbar. Eine wichtige Erwiderung lieferte Rudolf Hilferding, Böhm-Bawerks Marx-Kritik (1904, beide Beiträge
sind abgedruckt in: Aspekte der Marxschen
Theorie 1, hrsg. von F. Eberle, Ffm., 1973). Da sich Böhm-Bawerk vom Standpunkt
der Grenznutzentheorie detailliert mit der Marxschen Werttheorie
auseinandersetzt und viele später formulierte Einwände häufig nur mehr oder
weniger gelungene Wiederholungen von Argumenten darstellen, die sich bereits
bei Böhm-Bawerk finden, ist die Beschäftigung mit dieser Kontroverse noch immer
lohnenswert.[16]
Weniger relevant ist Böhm-Bawerks Kritik an der Wert-Preis
Transformation im dritten Band des Kapital.
Hier zeigte Ladislaus v. Bortkiewicz (Wertrechnung
und Preisrechnung im Marxschen System, 1906/7; Zur Berichtigung der grundlegenden theoretischen Konstruktion von Marx
im dritten Band des 'Kapital', 1907, beide Beiträge sind abgedruckt in:
ders., Wertrechnung und Preisrechnung im
Marxschen System, Gießen, 1976) als erster, daß die von Marx angegebene
quantitative Konstruktion zum Übergang von Werten in Produktionspreise nicht
konsistent ist (was, wie aus einer Bemerkung im dritten Band des Kapital hervorgeht, Marx selbst auch
schon klar war, nur daß er die damit verbundenen Probleme unterschätzte, vgl.
MEW 25, S.174). Bortkiewicz gab damit den Anstoß zu einer bis heute laufenden
Debatte über das „Transformationsproblem“, wobei mit zum Teil hoch
formalisierten Modellen der Marxschen Werttheorie gearbeitet wird. Wichtig für
diese Debatte wurde das 1960 erschienene Buch von Piero Sraffa, Warenproduktion mittels Waren (Ffm.,
1976). Zwar bezog sich Sraffa gar nicht auf die Marxsche Theorie, sondern
lieferte ausgehend von einer modernisierten Variante der Ricardoschen Theorie
die Grundlage für eine Kritik der Neoklassik.[17]
Doch ließ sich Sraffas „neoricardianisches“ Modell auch dazu benutzen, bei
gegebener stofflicher Reproduktionsstruktur einer Ökonomie Produktionspreise
und Durchschnittsprofitrate zu berechnen, ohne dabei auf die Werttheorie zurückzugehen.
Daher wurde bald die „Redundanz der Wertheorie“ behauptet, so vor allem von Ian
Steedman, Marx after Sraffa (1977).
Im angelsächsischen Raum führte vor allem diese Kritik zu einer verstärkten
Diskussion der Marxschen Werttheorie, in der sie in einer Reihe von Beiträgen
gegen „ökonomistische“ Verkürzungen verteidigt wurde. Gerade hier überschneiden
sich die „ökonomisch“ orientierten Ansätze mit den „gesellschaftstheoretisch“
orientierten, die im nächsten Abschnitt behandelt werden. Neben den in den 70er
Jahren vor allem in der Zeitschrift „Capital & Class“ geführten Debatten
sind in diesem Zusammenhang insbesondere zwei Sammelbände wichtig: Diane Elson
(ed.), Value. The Representation of
Labour in Capitalism, London 1979 und Ian Steedman et. al., The Value Controversy, London 1981. In
Deutschland findet sich eine Kritik der These von der Redundanz der Werttheorie,
die darauf abstellt, daß ihre neoricardianische Formulierung erhebliche
Verkürzungen beinhaltet, bei Johannes Berger, Ist die Marxsche Werttheorie eine Preistheorie?, in: Leviathan, Heft 4, 1979 und vor allem
bei Heiner Ganßmann, Marx ohne
Arbeitswerttheorie?, in: Leviathan,
Heft 3, 1983 sowie ders, Arbeit und
Preise. Funktionen der Werttheorie bei und nach Marx, in: H.Ganßmann,
S.Krüger (Hrsg.), Produktion
Klassentheorie, Hamburg 1993. Einen Überblick über die quantitativen und
qualitativen Aspekte des Transformationsproblems gibt Michael Heinrich, Was ist die Werttheorie noch wert?, in: PROKLA 72, 1988. Die Geschichte der quantitativ
orientierten Debatten wird in Fridrun Quaas, Das Transformationsproblem, Marburg 1992 referiert.
Zu den höchst umstrittenen Punkten der Marxschen Theorie gehört auch das
im dritten Band des Kapital formulierte
„Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate“: wie bereits im ersten Band
gezeigt wurde, steigt mit dem Wachstum der Produktivkraft zwar die Mehrwertrate,
allerdings auch das zur Produktion notwendige konstante Kapital; im dritten
Band versucht Marx zu zeigen, daß dieser steigende Kapitaleinsatz, trotz
steigender Mehrwertrate längerfristig zu einem Fall der Profitrate führen muß.
Bereits Paul Sweezy kritisierte die Marxsche Darstellung des Gesetzes in seiner
Theorie der kapitalistischen Entwicklung
(1942, Ffm., 1970). Die grundlegende und auf einer formalen Darstellung beruhende
Kritik stammt von Nobuo Okishio, Technische
Veränderungen und Profitrate (1961, dt. in: H.G. Nutzinger/ E. Wolfstetter
[Hrsg.] Die Marxsche Theorie und ihre
Kritik, 2 Bde., Ffm., 1974). Wichtige Beiträge zum Thema versammelt der von
Claus Rolshausen herausgegebene Band
Kapitalismus und Krise. Eine Kontroverse um das Gesetz des tendenziellen Falls
der Profitrate (Ffm., 1970). Eine Verteidigung des Marxschen Gesetzes
unternahmen Heinz Holländer, Das Gesetz
des tendenziellen Falls der Profitrate, in: Mehrwert 6, 1974 sowie Georgios Stamatis, Die 'spezifisch kapitalistischen' Produktionsmethoden und der
tendenzielle Fall der allgemeinen Profitrate bei Karl Marx (Berlin, 1977).
Die meisten modernen, nicht-marxistischen Ökonomen setzen sich – wenn
überhaupt – allenfalls oberflächlich mit Marx auseinander. Lesenswert ist vor
allem Joan Robinson, Grundprobleme der
Marxschen Ökonomie (1942; Marburg, 1987), die Marx von einem linkskeynesianischen
Standpunkt aus sowohl kritisiert als auch seine Leistungen herausstellt. Eine generelle
Kritik an Marx (nicht nur an seiner Ökonomie) findet sich im ersten Teil von
Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus,
Sozialismus und Demokratie (1942; München, 1980). Paul Samuelson (Zum Verständnis des Marxschen Begriffs Ausbeutung,
abgedruckt in: H.G. Nutzinger/ E. Wolfstetter [Hrsg.] Die Marxsche Theorie und ihre Kritik, 2 Bde., Ffm., 1974) wendet in
seiner Kritik an Marx den ganzen mathematisch formalen Apparat an, mit dem die
zeitgenössische Ökonomie inzwischen arbeitet.
Ausgehend von der neoricardianischen Kritik der Marxschen Werttheorie
und unter dem Einfluß des „methodologischen Individualismus“ etablierte sich
auch eine eigene Variante marxistischen Denkens, der „analytische Marxismus“.
Hier wird versucht, zentrale Aussagen der Marxschen Theorie (und zwar nicht nur
der ökonomischen, sondern auch der Geschichts- und der Klassentheorie) mit den
analytischen Mitteln moderner Sozialwissenschaft zu rekonstruieren (oder auch
zu verabschieden). Wichtige Vertreter sind G.A.Cohen, Karl Marx's Theory of History. A Defence (Oxford, 1978), John
Roemer, Analytical Foundations of Marxian
Economic Theory (Cambridge, 1981) und Jon Elster, Making Sense of Marx (Cambridge, 1985). Eine kritische Auseinandersetzung
mit diesen Ansätzen liefert Klaus Müller, Analytischer
Marxismus. Technischer Ausweg aus der theoretischen Krise?, in: PROKLA 72, 1988.
Hierunter werden nun Interpretationen zusammengefaßt, welche die Kritik
der politischen Ökonomie explizit nicht auf ein fachökonomisches Unternehmen
beschränken, sondern es als Analyse und Kritik eines bestimmten
Vergesellschaftungszusammenhangs und der aus ihm herauswachsenden Formen sowohl
des alltäglichen wie des wissenschaftlichen Bewußtseins begreifen. Die
Reflexion auf die methodischen und begrifflichen Schwierigkeiten eines solchen
Projekts nehmen in diesen Lesarten häufig eine wichtige Rolle ein, ebenso wie
seine Verortung innerhalb der abendländischen Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte.
Allerdings unterscheiden sich die einzelnen hier anzuführenden Ansätze ganz
erheblich voneinander.
1900-1960
Gesellschaftstheoretische Argumente bringt bereits Rudolf Hilferding in
seiner oben erwähnten Anti-Kritik zu Böhm-Bawerk vor. Eine erste methodisch
reflektierte, die quantitativen von den qualitativen Momenten streng
unterscheidende Interpretation der Marxschen Werttheorie legte aber kein
Marxist, sondern Franz Petry, Der soziale
Gehalt der Marxschen Werttheorie (Jena, 1916) vor, ein Schüler des
Neukantianers Heinrich Rickert und des (bürgerlichen) Ökonomen Karl Diehl. Eher
qualitativ gesellschaftstheoretisch orientiert als quantitativ sind auch die
von dem russischen Marxisten Isaak I. Rubin vorgelegten Studien zur Marxschen Werttheorie (1924; Ffm., 1973).[18]
Daß außerhalb Rußlands alle auf den 1.Weltkrieg gefolgten revolutionären
Erhebungen scheiterten, führte bei den linken Intellektuellen in den 20er
Jahren zu grundsätzlichen Reflexionen über den Marxismus, die weniger
ökonomietheoretisch als vielmehr philosophisch und geschichtstheoretisch orientiert
waren. Wichtig sind in diesem Zusammenhang vor allem Karl Korsch (Marxismus und Philosophie 1923; Ffm.,
1966) und Georg Lukács (Geschichte und
Klassenbewußtsein 1923, Darmstadt, 1968), noch stärker war die
philosophische Orientierung bei Ernst Bloch und Walter Benjamin.[19]
Auch die von David Rjasanov begonnene (erste) historisch-kritische Marx-Engels Gesamtausgabe (MEGA1),
deren erster Band 1927 erschien, begünstigte, daß nun das Marxsche Werk und
dessen Entwicklung selbst zum Gegenstand der Debatten wurde. Zu einer
Verschiebung der Diskussion trug schließlich auch das 1924 gegründete „Institut
für Sozialforschung“ bei, eine an die Universität Frankfurt/Main angegliederte
private Stiftung, die ein sowohl parteiunabhängiges als auch akademisch ausgerichtetes,
im weitesten Sinne „marxistisches“ Forschungsinstitut sein sollte. In den 30er
Jahren (nach der Machtübernahme der Nazis mußten das Institut und seine
Mitglieder emigrieren) entwickelte sich hier mit der „Kritischen Theorie“ eine
eigenständige, weit über den „klassischen“ Marxismus hinausgreifende
Sozialphilosophie, deren bedeutendste Köpfe Max Horkheimer, Theodor W. Adorno
und Herbert Marcuse waren.[20]
Diese eher in eine philosophische Richtung weisende Entwicklung der Diskussion
wurde noch verstärkt durch die erstmalige Veröffentlichung der Marxschen Pariser Manuskripte aus dem Jahre 1844
Anfang der dreißiger Jahre. Hier kam ein anderer (viel „philosophischerer“)
Marx zum Vorschein als der des (ökonomistisch verstandenen) Kapital (vgl. etwa den Aufsatz von
Herbert Marcuse, Neue Quellen zur
Grundlegung des Historischen Materialismus von 1932, wieder abgedruckt in
Marcuse, Ideen zu einer kritischen
Theorie der Gesellschaft, Ffm., 1969, sowie die Einleitung von Siegfried
Landshut zu der von ihm besorgten Ausgabe Karl Marx, Die Frühschriften 1932; Stuttgart, 1971).[21]
Durch Faschismus und Stalinismus (der nur noch einen engen und
dogmatischen „Marxismus-Leninismus“ zuließ und dem auch viele marxistische
Theoretiker wie Rubin oder Rjasanov zum Opfer fielen) wurde die Diskussion aber
weitgehend abgebrochen und erst nach dem zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen.
Dabei spielte in den fünfziger und frühen sechziger Jahren der Kalte Krieg im Osten
wie im Westen eine entscheidende Rolle. Im Osten gab es nur geringe Spielräume
für eine Diskussion Marxscher Theorie, die Abweichung von der offiziell
vorgegebenen Interpretation wurde sofort mit politischer Unzuverlässigkeit
gleichgesetzt. Im Westen stand jede positive Bezugnahme auf die Marxsche Theorie
sofort unter dem Verdacht die „kommunistische Diktatur“ zu unterstützen. In den
kommunistischen Parteien des Westens wurde nicht nur die Politik der Sowjetunion
fast vorbehaltlos unterstützt, auch der offizielle „Marxismus-Leninismus“ wurde
übernommen; in den sozialdemokratischen Parteien kam es dagegen zu einer weitgehenden
Eliminierung der noch vorhandenen Reste Marxscher Theorie. Vor diesem Hintergrund
ist es nicht verwunderlich, daß Intellektuelle, die sich jetzt noch um eine
ernsthafte Diskussion des Marxismus bemühten, an die „philosophischen“
Tendenzen der Diskussion in den 20er und 30er Jahren anknüpften: Marx wurde im
Hinblick auf philosophische oder philosophiegeschichtliche Probleme diskutiert,
wobei der philosophische, humanistische Marx zuweilen explizit, oft nur
implizit einem ökonomistisch verkürzten Marx entgegegengesetzt wurde. Diese
Orientierung galt sowohl für Autoren, die einer kommunistischen Partei
nahestanden, sich aber eine gewisse Eigenständigkeit bewahren wollten (u.a.
waren dies in Frankreich Auguste Cornu und Henri Lefebvre, sowie außerhalb der
KP Jean-Paul Sartre; in Italien Galvano Della Volpe und Lucio Colletti[22]),
wie auch für Kritiker des sowjetischen Systems, die mit dieser Kritik aber
nicht gleich den Marxismus über Bord werfen wollten (in Westdeutschland vor
allem Theodor W. Adorno, in den 60er Jahren auch der in den USA lebende Herbert
Marcuse; wichtig, da sie überhaupt eine sachliche Diskussion über den Marxismus
aufrecht erhielten, waren auch die von der Evangelischen Studiengemeinschaft zwischen
1954 und 1972 publizierten sieben Folgen der Marxismusstudien, mit Iring Fetscher als einem der wichtigsten
Autoren[23]).
Einen guten Überblick über die Debatten der 50er Jahre, die zugleich auch einen
bestimmten Typus der Marx-Rezeption repräsentieren, gibt eine frühe Arbeit von
Jürgen Habermas: Literaturbericht zur philosophischen
Diskussion um Marx und den Marxismus (1957; abgedruckt in: ders., Theorie und Praxis, Ffm, 1988).
1960-1988
Eine stärker auf die Kritik der politischen Ökonomie orientierte Debatte
setzte erst wieder in den 60er Jahren ein. Während die Diskussionen der 50er
Jahre auf recht kleine Zirkel beschränkt waren, fanden die Debatten der 60er
und 70er Jahre in den Universitäten bei Studenten und jüngeren Dozenten und von
da aus auch innerhalb von akademischen Berufen im pädagogischen und sozialen
Bereich, aber auch in gewerkschaftlichen Kreisen eine breitere Aufmerksamkeit.
Vor allem der Vietnamkrieg hatte dazu geführt, den antikommunistischen Konsens
im Westen aufzubrechen und die Politik der westlichen Führungsmacht USA zu
kritisieren. Davon ausgehend wurde in vielen westlichen Ländern vor allem von
der Studentenbewegung das kapitalistische System auch grundsätzlich in Frage gestellt.
Mit den großen Streikbewegungen Ende der 60er Jahre („Mai 68“ in Frankreich,
„heißer Herbst“ 1969 in Italien, Septemberstreiks in der BRD) schien sich
schließlich auch die Arbeiterklasse als antikapitalistische Kraft
zurückzumelden. Dies alles erhöhte das Interesse am Marxismus im allgemeinen
und an der Kritik der politischen Ökonomie im besonderen. Im Unterschied zu den
oben dargestellten „ökonomischen Lesarten“ waren die jetzt in einem
politisierten akademischen Milieu entstehenden Texte durch die vorangegangenen
„sozialphilosophischen“ Diskussionen für Fragen der Methode, der
Abstraktionsebenen der einzelnen Kategorien, der philosophischen Einflüsse auf
die Kritik der politischen Ökonomie sowie ihrer Herausbildung und Entwicklung
in den verschiedenen Werken von Marx sensibilisiert.
Nicht nur für Frankreich, sondern mit einer gewissen zeitlichen
Verzögerung auch für andere Länder, bildete Louis Althusser Das Kapital lesen (1965)[24]
einen wichtigen Einschnitt in der Debatte. Beeinflußt vom Strukturalismus
wendet sich Althusser sowohl gegen eine „hegelianisierende“ als auch eine
„historisierende“ Lektüre des Kapital
und stellt den Bruch zwischen dem „wissenschaftlichen“ Kapital und den noch philosophisch-ideologischen Frühschriften
heraus. Die methodischen Probleme des Kapital
könnten gerade nicht durch Rückgriff auf Hegelsche Argumentationsfiguren,
sondern nur in Abgrenzung von ihnen geklärt werden. Ein zentraler Begriff von
Althussers Interpretation war die „strukturale Kausalität“, die „Determination
durch eine Struktur“, der ihm den Vorwurf einbrachte, die realen historischen
Subjekte zugunsten bloßer Strukturen auszublenden.[25]
Ebenfalls vom Strukturalismus beeinflußt, allerdings unabhängig von Althusser,
argumentierte auch Maurice Godelier in Rationalität
und Irrationalität in der Ökonomie (1966; Ffm., 1972).[26]
Althussers Marx-Interpretation befruchtete auch die zu Beginn der 70er
Jahre in Frankreich entstandene „Regulationsschule“, einen der wichtigsten
marxistischen Neuansätze zur Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus. Die
Regulationsschule untersuchte, ausgehend von den verschiedenen Weisen der
„Regulation“ des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital, die kapitalistische
Entwicklung, wobei die deterministische Auffassung von „Entwicklungsstadien“
des Kapitalismus (wie sie im Marxismus-Leninismus vorherrschte) zugunsten der
Vorstellung einer (historisch nicht vorherbestimmten) Abfolge von „Akkumulationsmodellen“
ersetzt wurde. Wichtige Arbeiten der Regulationsschule sind Michel Aglietta, A Theory of Capitalist Regulation
(franz. 1976, London 1979) und Alain Lipietz, The Enchanted World. Inflation, Credit and the World Crisis (London
1985). Eine kurzgefaßte Darstellung des Regulationsansatzes gibt Alain Lipietz,
Akkumulation, Krisen und Auswege aus der
Krise (in: PROKLA 58, 1985).
Einen Überblick über Konzepte und Entwicklungen der Regulationsschule liefert
Kurt Hübner, Theorie der Regulation
(Berlin, 1989), über die Beziehungen zu Althusser informiert Alain Lipietz, Vom Althusserismus zur 'Theorie der
Regulation' in: Alex Demirovic u.a. (Hrsg.), Hegemonie und Staat, Münster 1992. Eine neuere Auseinandersetzung
mit der Regulationsschule liefert Josef Esser u.a. (Hrsg.), Politik, Institutionen und Staat. Zur Kritik
der Regulationstheorie, Hamburg 1994.
Neben der französischen Debatte beeinflußte die „strukturalistische“
Marx-Interpretation auch sehr stark die englische und amerikanische Diskussion.
Wichtig ist hier vor allem das zweibändige Werk Marx's Capital and Capitalism Today (London, 1977) von Antony
Cutler, Barry Hindess, Paul Hirst und Athar Hussein, in dem nicht nur orthodoxe
Marx-Interpretationen, sondern auch zentrale Konzepte des Marxschen Kapital selbst kritisch diskutiert und
für eine Analyse des modernen Kapitalismus auch teilweise verworfen werden. In der
Bundesrepublik legte Hermann Kocyba, Widerspruch
und Theoriestruktur, Ffm., 1979 eine stark von Althusser beeinflußte
Untersuchung der Marxschen Darstellungsstruktur im Kapital vor. Vorwiegend kritische Auseinandersetzungen mit
Althusser finden sich u. a. bei Alfred Schmidt, Der strukturalistische Angriff auf die Geschichte (1969, in: ders.
(Hrsg.), Beiträge zur marxistischen
Erkenntnistheorie, Ffm., 1969) und Geschichte
und Struktur (Ffm., 1971), Axel Honneth, Geschichte und Interaktionsverhältnisse, in: Urs Jaeggi, Axel
Honneth (Hrsg.), Theorien des Historischen
Materialismus (Ffm., 1980) sowie im Anhang von Wolfdietrich
Schmid-Kowarzik, Die Dialektik der gesellschaftlichen
Praxis, Freiburg, 1981. Neuere Diskussionen und Anschlüsse an Althusser liefern
die Beiträge in Hennig Böke u.a. (Hg.), Denk-Prozesse
nach Althusser, Hamburg 1994.
Auch in Italien setzte in den sechziger Jahren eine erneute Diskussion
des Kapital ein. Wichtig war hier
Mario Tronti, Arbeiter und Kapital,
1966, Ffm., 1974, eine Sammlung von Aufsätzen, die vor allem die Bedeutung des
Klassenkampfs (und nicht nur der Kapitalbewegung) innerhalb der Kritik der
politischen Ökonomie hervorhoben und diese für eine Analyse aktueller
Klassenbewegungen fruchtbar machen wollte. In eine ähnliche Richtung
(wenngleich Tronti kritisierend) gingen auch die Arbeiten von Toni Negri (Zyklus und Krise bei Marx, 1968; Berlin,
1972), der schließlich auf eine Verbindung von Krisen- und Staatstheorie abzielte,
wobei sowohl die Krisen als auch die staatlichen Strategien als Reaktion auf
Arbeiterkämpfe verstanden wurden (Die
Krise des Planstaats, Berlin, 1973; Staat in der Krise, 1974; Berlin, 1977).[27]
In einer ausführlichen Auseinandersetzung mit den Grundrissen versuchte er diese gegen eine objektivistische, die Klassenkämpfe
negierende Interpretation des Kapital
zu wenden (Marx Beyond Marx, 1979;
London 1984). Im jüngsten, gemeinsam mit Michael Hardt verfaßten Buch (Die Arbeit des Dionysos. Materialistische
Staatskritik in der Postmoderne, Berlin 1997) wird die Staatstheorie in Anknüpfung
an Thesen von Foucault und Deleuze/Guattari fortgeführt.
In den sechziger Jahren gab es auch substanzielle Beiträge zur
Diskussion der Marxschen Theorie aus den „realsozialistischen“ Ländern. Zwar
war das kulturelle „Tauwetter“ nach der Entstalinisierung nur kurz, doch
konnten in den theoretischen Debatten (sofern sie von politischer Praxis weit
genug entfernt blieben) nun auch wieder Positionen vertreten werden, die sich
nicht auf die bloße Wiederholung „marxistisch-leninistischer“ Floskeln beschränkten.
Dabei waren viele Untersuchungen zur Marxschen Theorie in ähnlicher Weise an
Fragen der Methode und der Entwicklung des Marxschen Denkens orientiert, wie
die westlichen Beiträge. Da diese Werke relativ schnell in der DDR ins Deutsche
übersetzt wurden, beeinflußten sie auch sehr bald die Diskussion in Westdeutschland.
In der Tschechoslowakei erschien bereits 1962 von Jindrich Zeleny Die Wissenschaftslogik bei Marx und 'Das Kapital'
(Berlin 1968), eine wissenschaftstheoretische Untersuchung der
Argumentationsweise des Kapital, die
das Verhältnis der Marxschen zur Hegelschen Dialektik ins Zentrum stellte und
dazu die Etappen der Marxschen Hegelkritik seit den Frühschriften verfolgte.
Eine Untersuchung zur Marxschen Methode von E.W.Iljenkow war auch schon 1960 in
der Sowjetunion erschienen: Die Dialektik
des Abstrakten und Konkreten im 'Kapital' von Marx, ein Kapitel dieser
Schrift erschien unter demselben Titel auf Deutsch (in Alfred Schmidt [Hrsg.], Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie,
Ffm., 1969). Witali Wygodski zeichnete in der Sowjetunion die Entstehungsgeschichte
des Kapital seit den 1850er Jahren
anhand der verschiedenen Entwürfe nach: Die
Geschichte einer großen Entdeckung, Berlin, 1967; Wie 'Das Kapital' entstand, Berlin, 1976. Die Vorgeschichte des Kapital in der Periode von 1844 bis 1857
wurde in der DDR von Walter Tuchscheerer untersucht: Bevor 'Das Kapital' entstand, Berlin, 1968.
Anläßlich des 100jährigen Jubiläums der Veröffentlichung des Kapital erschienen in der Bundesrepublik
zwei Sammelbände Folgen einer Theorie.
Essays über 'Das Kapital' von Karl Marx, Ffm., 1967 und Kritik der politischen Ökonomie heute. 100
Jahre 'Kapital', hrsg. von Walter Euchner und Alfred Schmidt, Ffm., 1968.
Während sich der erstgenannte Band eher mit allgemeinen ökonomischen und
historischen Fragen vor dem Hintergrund der Marxschen Theorie befaßte, gingen
die Beiträge des zweiten Bandes stärker auf Fragen der Methode und des
Gegenstands im Kapital ein (vgl.
insbesondere die Artikel von Roman Rosdolsky, Nicos Poulantzas und Alfred
Schmidt).
Für die Diskussion des Kapital
spielten in der Bundesrepublik seit den 60er Jahren die Grundrisse von 1857/58 eine zentrale Rolle, da in ihnen ein
entscheidendes Bindeglied zwischen den „philosophischen“ Frühschriften (den Pariser Manuskripten von 1844, die seit
den frühen 30er Jahren so enorm wichtig geworden waren) und dem Kapital von 1867 gesehen wurde. Die
erste größere Untersuchung, in denen die Grundrisse
eine wichtige Rolle spielten, legte Alfred Schmidt vor, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Ffm., 1962. Er kritisierte
die Engelssche Vorstellung von Naturdialektik und skizzierte ein von der Kritik
der politischen Ökonomie ausgehendes Materialismuskonzept. Einen richtigen
„Durchbruch“ erlebten die Grundrisse
mit der Veröffentlichung des umfangreichen Werkes von Roman Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des 'Kapital',
Ffm., 1968. In seinem Hauptteil handelt es sich um einen ausführlichen
Kommentar zu den Grundrissen, womit
die Auseinandersetzung mit den Marxschen Texten ein neues Niveau erreichte: es
ging jetzt nicht mehr nur um eine entweder recht allgemeine Auseinandersetzung
mit den grundlegenden Marxschen Aussagen oder um eine detaillierte Diskussion
einzelner Probleme, jetzt wurde ein ganzer Text systematisch und in seinem Zusammenhang
untersucht. Besonders nachhaltig wirkte auf die spätere Diskussion, daß
Rosdolsky im Einleitungskapitel die für die Grundrisse
zentrale Kategorie des „Kapital im Allgemeinen“ herausstellte und ausgehend von
ihr auch den Aufbau des Kapital
interpretierte (was dann in den 70er Jahren in vielen Kapital-Interpretationen übernommen wurde). Obgleich diese
Interpretation fragwürdig ist (Marx benutzt die Kategorie des „Kapital im
Allgemeinen“ an keiner einzigen Stelle der drei Bände des Kapital), sensibilisierte sie für die kategoriale Logik der
Marxschen Argumentation, die in verschiedener Richtung weiterverfolgt wurde.
Für die nun folgenden Diskussionen wurden zentrale Beiträge von
Hans-Georg Backhaus, Zur Dialektik der
Wertform (1969, in: Alfred Schmidt [Hrsg.], Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie, Ffm., wiederabgedruckt
in H.-G. Backhaus, Dialektik der Wertform,
Freiburg 1997) und von Helmut Reichelt Zur
logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx, Ffm., 1970 vorgelegt.
Hier wurde die Marxsche Wert- und Mehrwerttheorie nicht einfach, wie in den
oben skizzierten „ökonomischen“ Lesarten, in erster Linie als Arbeitsmengentheorie,
die ein System der relativen Preise und die Ausbeutung erklären soll,
aufgefaßt, sondern als komplexe Darstellung einer auf „Verkehrungen“
aufbauenden Vergesellschaftungsweise. Dementsprechend richtet sich die
Aufmerksamkeit verstärkt auf die früher eher vernachlässigte Marxsche
Formanalyse.
An die Formanalyse knüpfte auch die westdeutsche
„Staatsableitungsdebatte“ an, in der versucht wurde, statt den Staat als bloßes
„Instrument“ der herrschenden Klasse aufzufassen, die Funktionen und vor allem
die relative Autonomie des bürgerlichen Staates bereits aus der Logik des Kapitals
zu entwickeln. Wichtige Beiträge zu dieser Debatte waren u.a.: Wolfgang Müller,
Christel Neusüß, Die Sozialstaatsillusion
und der Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital, in: Sozialistische Politik Nr. 6/7, 1970; Bernhard Blanke, Ulrich
Jürgens, Hans Kastendiek Zur neueren
marxistischen Diskussion über die Analyse von Form und Funktion des
bürgerlichen Staates, in: PROKLA
14/15, 1974.[28]
Auch verschiedene Versuche, mittels der Marxschen Kategorien aktuelle
Entwicklungs- und Krisentendenzen des Kapitalismus zu bestimmen, wurden jetzt
durch die Debatten über die Formanalyse und den Abstraktionsgrad der Marxschen
Darstellung erheblich beeinflußt. Da deutlich geworden war, daß die
Erscheinungen an der „Oberfläche“ der bürgerlichen Gesellschaft (und die an diesen
Oberflächenphänomenen anknüpfenden volkswirtschaftlichen Statistiken) zunächst
einmal eine Reihe von „Verkehrungen“ zum Ausdruck brachten, erforderte eine mit
Marxschen Kategorien arbeitende Analyse eine nicht unerhebliche Übersetzungsleistung
(vgl. Elmar Altvater, Jürgen Hoffmann, Wolfgang Schöller, Willi Semmler, Entwicklungsphasen und -tendenzen des Kapitalismus
in Westdeutschland (1.Teil), in: PROKLA
13, 1974 wo die methodischen Probleme einer solchen Analyse explizit
reflektiert werden), zum Krisenbegriff siehe insbesondere Elmar Altvater, Der Kapitalismus in einer Formkrise. Zum
Krisenbegriff in der politischen Ökonomie und ihrer Kritik, in: Aktualisierung Marx', Argument
Sonderband 100, Hamburg, 1983, sowie Michael Stanger, Krisentendenzen der Kapitalakkumulation, Berlin, 1988. In diesem
Zusammenhang wurde auch ein theoretischer Ansatz zur Analyse des Weltmarkts
entwickelt, der sich an die von Marx im 20.Kapitel des ersten Bandes des Kapital dargestellte „Modifikation“ des
Wertgesetzes auf dem Weltmarkt anlehnte und sich sowohl von der Leninschen
Imperialismustheorie als auch von der These eines „ungleichen Tauschs“ auf dem
Weltmarkt abgrenzte.[29]
Die Formanalyse wurde aber auch noch für ganz andere Bereiche fruchtbar
gemacht. So analysierte R.W.Müller in Geld
und Geist, Ffm., 1977 ausgehend von der Marxschen Analyse der Formbestimmungen
des Geldes die Entstehung von Identitätsbewußtsein und Rationalität in Antike
und früher Neuzeit. In eine ähnliche Richtung der Ableitung abstrakter Denk-
und Erkenntnisformen aus den im Tausch vor sich gehenden „Realabstraktionen“
gingen auch die schon viel früher entstandenen, aber zum Teil erst in den 70er
Jahren veröffentlichten Arbeiten von Alfred Sohn-Rethel (Geistige und körperliche Arbeit, Ffm., 1970; Das Geld, die bare Münze des Apriori, in: Paul Mattick u.a., Beiträge zur Kritik des Geldes, Ffm.,
1976; Warenform und Denkform, Ffm.,
1978).
Die Debatten über Methode, Aufbau der Argumentation, Reichweite und
Gegenstand des Kapital führten in den
70er Jahren zu der Einsicht, daß die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie
nicht einfach rezipiert werden könne, sondern daß sie in gewisser Weise „rekonstruiert“
werden muß: einerseits war es Marx nicht gelungen, sein geplantes Werk zu vollenden
(davon zeugte der fragmentarische Charakter des zweiten und vor allem des
dritten Bandes des Kapital), zum
anderen galten seine eigenen expliziten Reflexionen zu den in der Debatte aufgeworfenen
methodischen und erkenntniskritischen Fragen als unzureichend. Rekonstruktionsversuche
gab es nun in verschiedener Richtung.
Mit der Formanalyse verstärkte sich auch das Interesse am Verhältnis von
Hegelscher Philosophie (insbesondere dessen Wissenschaft
der Logik) und Marxscher Kategorienentwicklung im Kapital, was bei Hegel-Spezialisten zu einer Beschäftigung mit Marx
führte (so etwa Hans Friedrich Fulda, These
zur Dialektik als Darstellungsmethode im 'Kapital' von Marx und Michael
Theunissen, Krise der Macht. Thesen zur
Theorie des dialektischen Widerspruchs, beide Texte in: Hegel-Jahrbuch 1974, Köln 1975) und bei
einem Teil marxistischer Autoren zu einer Art von „Hegelmarxismus“ führte: Marx
und Hegel wurden in diesen Ansätzen in doppelter Weise verschränkt. Die Kritik
der politischen Ökonomie wurde inhaltlich als materialistische Wahrheit der
Hegelschen Philosophie gedeutet (Hegels „Weltgeist“ sei die mystifizierte
Gestalt der von Marx analysierten Kapitalbewegung). Methodisch sei aber Marx dialektische
Darstellung von Hegels Logik abhängig
und lasse sich erst mit deren Hilfe adäquat verstehen.[30]
In dieser Weise argumentierten etwa Hans-Jürgen Krahl Bemerkungen zum Verhältnis von Kapital und Hegelscher Wesenslogik
(in: Oskar Negt [Hrsg.], Aktualität und
Folgen der Philosophie Hegels, Ffm., 1970) und Zur Wesenslogik der Marxschen Warenanalyse (in: ders., Konstitution und Klassenkampf, Ffm.,
1971) Rüdiger Bubner Logik und Kapital
(in: ders., Dialektik und Wissenschaft,
Ffm., 1973), ein neuerer Beitrag in dieser Tradition ist Helmut Brentel, Widerspruch und Entwicklung bei Marx und Hegel,
Studientexte zur Sozialwissenschaft. Fachbereich Gesellschaftswissenschaften,
J.W.Goethe Universität Ffm., 1986. Von der zentralen Bedeutung der Hegelschen
Dialektik für die Marxsche Argumentation ging auch die Autorengruppe des
zweibändigen Werkes Krise und Kapitalismus
bei Marx, Ffm., 1975 aus, die sich allerdings nicht mehr nur auf die Wert-
und Kapitaltheorie der ersten vier Kapitel des ersten Bandes des Kapital beschränkte (was bei den gerade
genannten Werken noch weitgehend der Fall war), sondern sich detailliert mit
der gesamten Argumentation der drei Kapital-Bände
beschäftigte.
Das gewachsene Interesse an Methodenfragen veranlaßte auch Reprints
zweier bis dato weitgehend unbeachtet gebliebener Studien. Otto Morf, Geschichte und Dialektik in der politischen
Ökonomie (1951) Ffm., 1970 untersuchte nicht nur Marx' Verständnis materialistischer
Dialektik, sondern auch das Verhältnis von Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte.
Konrad Bekker, Marx' Philosophische
Entwicklung sein Verhältnis zu Hegel (1940), Hamburg 1973 ist ein Versuch,
das Marxsche Verständnis von Dialektik systematisch zu entwickeln.
Mit einer Reihe von systematischen Kommentaren der Vorarbeiten zum Kapital versuchte die „Projektgruppe
Entwicklung des Marxschen Systems (PEM)“ den jeweils von Marx erreichten
Argumentationsstand und die von ihm noch nicht überwundenen Darstellungsschwierigkeiten
anzugeben: Das Kapitel vom Geld,
Westberlin, 1975, es handelt sich dabei um einen ausführlichen Vergleich der verschiedenen
Geldableitungen von den Grundrissen
bis zum Kapital; Der 4. Band des 'Kapital'? Kommentar zu den 'Theorien über den Mehrwert,
Westberlin, 1975; Grundrisse der Kritik
der politischen Ökonomie [Rohentwurf] Kommentar, Hamburg, 1978; Axel Otto,
Joachim Bischoff u.a. Grundsätze der
Politischen Ökonomie. Der zweite Entwurf des 'Kapitals' [MEGA2],
Hamburg, 1984; Joachim Bischoff, Axel Otto u.a. Ausbeutung, Selbstverrätselung, Regulation. Der 3. Band des 'Kapital',
Hamburg, 1993. Mit einem systematischen Kommentar zum Kapital, für den auch die verschiedenen Vorarbeiten fruchtbar
gemacht werden sollten, begann die „Marxistische Gruppe“ (MG), brach ihn allerdings
nach der Kommentierung der ersten fünf Abschnitte des ersten Kapital-Bandes ab (Der Aufbau des 'Kapital' (I), in: Resultate der Arbeitskonferenz Nr. 1, 1974, Der Aufbau des 'Kapital' (II), in: Resultate der Arbeitskonferenz Nr. 2, 1975).
Während sich die genannten Werke um eine wissenschaftliche Kommentierung
und Interpretation bemühten, entstanden in den 70er Jahren auch eine Reihe von
populären Einführungen ins Kapital.
Dabei wurde einerseits versucht, den Marxschen Text mehr oder weniger
ausführlich zusammenzufassen (z.B. Mike Rot, Kurzer Abriß der Kapitalanalyse, Erlangen, 1974; Erhart Löhnberg, 'Das Kapital' zum Selbststudium, 2 Bde.,
Ffm., 1975), andererseits die methodischen und begrifflichen Probleme, die beim
Lesen auftreten, anzugehen (Wolfgang Fritz Haug, Vorlesungen zur Einführung ins 'Kapital', Köln, 1974).
Mit der Entwicklungsgeschichte der Marxschen Kritik der politischen
Ökonomie beschäftigten sich in den 70er und frühen 80er Jahren zwei größere
Arbeiten: Winfried Schwarz, Vom
'Rohentwurf' zum 'Kapital', Westberlin, 1978 stellte dabei das bereits von
Roman Rosdolsky hervorgehobene Konzept des „Kapital im Allgemeinen“ ins Zentrum
seiner „Strukturgeschichte“ des Kapital,
die den Zeitraum von 1857 bis 1872 behandelt. Fred Schrader, Restauration und Revolution, Hildesheim,
1980 untersuchte die Vorgeschichte der Grundrisse
in Marx Londoner Studienheften, sowie die Entwicklung von Warenanalyse und Kapitaltheorie
in den Grundrissen.
In eine andere Richtung wiesen die Bemühungen von Hans-Georg Backhaus.
Mit seinen Materialien zur Rekonstruktion
der Marxschen Werttheorie (die ersten drei Teile erschienen zwischen 1974
und 1978 in der Reihe Gesellschaft.
Beiträge zur Marxschen Theorie, Ffm., der vierte, ebenfalls in den 70er
Jahren geschriebene, erst in: ders., Dialektik
der Wertform, Freiburg, 1997) lenkte er den Blick zunächst auf die
Differenz von „Marxscher“ und „marxistischer“ Werttheorie, wobei die letztere
auf Engels zurückgehende Werttheorie, mit den bürgerlichen (objektiven oder
subjektiven) Werttheorien den „prämonetären“ Charakter teilen würde (d.h. es
handelt sich um Werttheorien ohne inhärenten Bezug zur Geldtheorie), während
die eigentlich Marxsche Werttheorie (mit dem Kernstück Wertformanalyse) gerade
als Kritik prämonetärer Werttheorien konzipiert sei. Zunehmend richtete
Backhaus seine Kritik aber nicht nur auf die „marxistische“ Werttheorie, sondern
auch auf die Marxsche Theorie selbst, die im Zuge einer „Popularisierung“
zunehmend an begrifflicher Schärfe verloren habe: in dieser Perspektive
erscheinen die von Marx zur Selbstverständigung geschriebenen Grundrisse von 1857/58 als das eigentlich
zentrale Werk, während die späteren Schriften das skizzierte Programm der Grundrisse nicht ausführen, sondern eher
verwässern (vgl. dazu auch die weiteren Aufsätze, die in dem 1997 erschienenen
Band enthalten sind). In eine in gewissem Sinn ähnliche Richtung zielte auch
die Kritik von Gerhard Göhler Die
Reduktion der Dialektik bei Marx, Stuttgart, 1980, der zeigen wollte, daß
Marx eine „emphatische“ Dialektik, von der er noch 1859 ausgegangen sei, im Kapital durch eine weitgehend
„reduzierte“ Dialektik ersetzt habe. Daß eine gewissermaßen „reduzierte“
Dialektik sogar mit den Kriterien der analytischen Wissenschaftstheorie (die im
Positivismusstreit der 60er Jahre der große Gegner der „Kritischen Theorie“
war) kompatibel ist, versuchte Ulrich Steinvorth, Eine analytische Interpretation der Marxschen Dialektik, Meisenhain
1977 zu zeigen.
Die in den 70er Jahren intensiver und auch auf höherem theoretischem
Niveau als früher geführte Debatte über die Marxsche Theorie führte auch zu
einer Anzahl von Kritiken, die sich nicht, wie dies zu den Hochzeiten des
Kalten Krieges noch üblich war, mit einer oberflächlichen Marx-Kenntnis und
einem entsprechend niedrigem Niveau der Kritik begnügten. Auf einzelne, eher
ökonomisch orientierte Punkte, wie etwa die Auseinandersetzungen um die
Geldtheorie, das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate wurde bereits
oben bei den „ökonomischen“ Lesarten verwiesen. Eine an aristotelischen Problemstellungen
orientierte Kritik der Marxschen Werttheorie formulierte Cornelius Castoriadis,
Wert, Gleichheit, Gerechtigkeit, Politik.
Von Marx zu Aristoteles und von Aristoteles zu uns, (1975) in: ders., Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft,
Gesellschaft, Ffm., 1981.
Gesellschaftstheoretisch sind vor allem diejenigen Kritiken interessant,
die auf ein „normatives“ Fundament der Marxschen Kritik zielen, das – entgegen
dem Marxschen Selbstverständnis – seine Kritik der politischen Ökonomie erst
ermögliche. Dabei werden diese mehr oder weniger uneingestandenen normativen
Vorstellungen an unterschiedlichen Stellen der Marxschen Argumentation
verortet. So versucht Ernst-Michael Lange (Wertformanalyse,
Geldkritik und die Konstruktion des Fetischismus bei Marx, in: Neue Hefte für Philosophie, Heft 13,
1978) nachzuweisen, daß sich die Marxsche Konzeption des Fetischismus nur
schlüssig entwickeln läßt wenn eine (nicht-fetischistische) „unmittelbare Gesellschaftlichkeit“
als Norm menschlichen Zusammenlebens unterstellt wird. Eine weitergehende
Kritik, die auch eine Reihe begrifflicher Konzeptionen von Marx, wie etwa die
„Vergegenständlichung von Arbeitszeit“ umfaßt, lieferte Lange etwas später: Das Prinzip Arbeit. Drei metakritische
Kapitel über Grundbegriffe, Struktur und Darstellung der „Kritik der
Politischen Ökonomie' von Karl Marx, Ffm., 1980. Normative Vorstellungen
sieht Andreas Wildt (Gerechtigkeit in
Marx' Kapital, in: E.Angehrn, G.Lohmann (Hrsg.), Ethik und Marx. Moralkritik und normative Grundlagen der Marxschen Theorie,
Königstein/Ts., 1986) vor allem an zwei Stellen: in der Darstellung der
Auseinandersetzung um den Arbeitstag (hier werde ein Recht des Arbeiters auf
ein unversehrtes Leben unterstellt) und bei der Behandlung des „Umschlags der
Aneignungsgesetze“ (22.Kapitel, 1.Bd. des Kapital),
die ein „gerechtes Aneignungsgesetz“ voraussetzen würde. Während Lange und
Wildt das normative Fundament der Kritik der politischen Ökonomie in bestimmten,
von Marx selbst nicht explizierten Vorstellungen sehen, begreifen Jürgen Habermas
(Zur Rekonstruktion des historischen
Materialismus, Ffm., 1976) und Georg Lohmann (Zwei Konzeptionen von Gerechtigkeit in Marx' Kapitalismuskritik,
ebenfalls in Angehrn/Lohmann 1986 sowie: Indifferenz
und Gesellschaft. Eine kritische Auseinandersetzung mit Marx, Ffm., 1991)
das Marxsche Kritikverfahren als ein Immanentes: die bürgerliche Gesellschaft
wird an ihren eigenen Gleichheits- und Gerechtigkeitsversprechen gemessen und
deren unzureichende Erfüllung wird kritisiert. Eine ausführlichere Auseinandersetzung
mit den gesellschaftstheoretischen Aspekten der Marxschen Werttheorie findet
sich im letzten Kapitel von Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Ffm., 1981, wo Marx vor dem
Hintergrund von Habermas' eigenem Ansatz und gestützt auf die Interpretationen
von Lange und Lohmann kritisiert wird. Allen W. Wood (Marx' Immoralismus, in: Angehrn/Lohmann 1986) betont dagegen gerade
den nicht-normativen Charakter der Marxschen Argumentation. Ähnlich
argumentierte auch Haug, der herausstellte, daß Moral für Marx immer
gesellschaftlich formbestimmt ist (Marx, Ethik
und ideologische Formbestimmtheit der Moral, in: Angehrn/Lohmann 1986).
Kritisch mit dieser Moraldebatte setzte sich Michael Heinrich (Kritik und Moral, in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung Neue
Folge, Hamburg 1992) auseinander.
Kritisiert wurde die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie auch im
Rahmen feministischer Beiträge für die weitgehende Ausblendung von
Geschlechterverhältnissen, was insbesondere an der Wertbestimmung der Ware
Arbeitskraft, die die Reproduktionsarbeit der Frauen im Haushalt unberücksichtigt
läßt, festgemacht wurde. Kapitalistische „Ausbeutung“ beschränkt sich dann
nicht auf den (männlichen) Lohnarbeiter, sondern umfaßt auch die (von Frauen geleistete
unbezahlte) Hausarbeit. Eine detailliertere Auseinandersetzung mit der Marxschen
Argumentation findet man bei Claudia v.Werlhof, Frauenarbeit: der blinde Fleck in der Kritik der politischen Ökonomie,
in: Beiträge zur feministischen Theorie
und Praxis 1, 1978 sowie Christel Neusüß, Die Kopfgeburten der Arbeiterbewegung, Hamburg 1985 (insbesondere
Kapitel 1). Weiter ausgebaut und mit dem Konzept der „Hausfrauisierung“ der
Arbeit zur Analyse weltwirtschaftlicher Prozesse benutzt, wurde dieser von
Veronika Bennholt-Thomsen, Subsistenzproduktion
und erweiterte Reproduktion, in: Gesellschaft
14, Ffm. 1981, Claudia v. Werlhof, Maria Mies, Veronika Bennholdt-Thomsen, Frauen, die letzte Kolonie, Reinbek
1983. Kritisch diskutiert wurden diese Beiträge unter anderem von Marianne
Braig, Carola Lentz, Wider die
Enthistorisierung der Marxschen Werttheorie. Kritische Anmerkungen zur
Kategorie „Subsistenzproduktion“ und Ursula Beer: Marx auf die Füße gestellt? Zum theoretischen Entwurf von Claudia v.
Werlhof, beide Texte in: PROKLA
50, 1983.
In den 70er Jahren hatte sich nicht nur die Diskussion über die Marxsche
Theorie intensiviert, mit dem Erscheinen der (nach der ersten von Rjasanov in
den 20er Jahren begonnenen) zweiten Marx-Engels
Gesamtausgabe MEGA2 ab 1975 standen auch die Texte von Marx und
Engels in ganz anderer Qualität zur Verfügung: eine Reihe von Texten wurde überhaupt
erstmals publiziert, aber auch bereits veröffentlichte Texte lagen nun in einer
historisch-kritischen Edition vor. Im Zusammenhang mit der Herausgabe der MEGA2
in der DDR und der Sowjetunion verstärkte sich dort auch die editorische und
quellengeschichtliche Forschung zu den Marxschen Texten und konnte politisch
weitgehend unbehelligt vonstatten gehen. Eine Vielzahl von Beiträgen zur Entwicklung
der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie und ihren philosophischen und
nationalökonomischen Quellen erschienen in den die MEGA2
begleitenden Periodika: dem vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der
KPdSU, Moskau und vom Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin
herausgegebenen Marx-Engels Jahrbuch
(13 Bände, Berlin 1978-1991), den vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK
der SED herausgegebenen Beiträge zur
Marx-Engels-Forschung (29 Hefte, Berlin 1977-1990) und den an der Martin
Luther Universität Halle Wittenberg herausgegebenen Arbeitsblätter zur Marx-Engels-Forschung (23 Hefte, Halle
1976-1988). Wichtige Beiträge enthielten auch die beiden Sammelbände ...unsrer Partei einen Sieg erringen. Studien
zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des 'Kapitals' von Karl Marx,
Berlin 1978 und Der zweite Entwurf des
'Kapitals', Berlin, 1983. In Zusammenhang mit den von der MEGA2
angestoßenen Forschungen entstanden auch der vom Institut für Marxistische
Studien und Forschungen (IMSF) in Frankfurt/Main herausgegebene Band Internationale Marx-Engels-Forschung. Marxistische
Studien. Jahrbuch des IMSF 12 (Ffm., 1987), sowie die vier Bände Marx-Engels Forschung heute (die ersten
beiden wurden von der Marx-Engels Stiftung Wuppertal 1989 und 1990
herausgegeben, die letzten beiden vom IMSF Ffm. 1991 und 1992). Aus der Vielzahl
der in den gerade genannten Periodika und Sammelbänden erschienenen Beiträge
sei insbesondere auf die folgenden hingewiesen: Wolfgang Jahn, Die 'Londoner Hefte 1850-1853' in der
Entwicklung der politischen Ökonomie von Karl Marx, Michail Ternowski, Alexander
Tschepurenko, 'Grundrisse': Probleme des
zweiten und dritten Bandes des 'Kapital' und das Schicksal des Begriffs des
'Kapitals im Allgemeinen', Winfried Schwarz, Die Geldform in der 1. und 2. Auflage des 'Kapital'. Zur Diskussion um
die Historisierung der Wertformanalyse, alle drei Beiträge in dem vom IMSF
herausgegebenen Band Internationale Marx-Engels-Forschung,
Ffm., 1987; Rolf Hecker, Die Entwicklung
der Werttheorie von der 1. zur 3. Auflage des ersten Bandes des 'Kapitals' von
Karl Marx (1867-1883), in: Marx-Engels-Jahrbuch
10, 1987, Thomas Marxhausen, Die
Entwicklung des Begriffs 'Fetischismus' bei Marx, in: Arbeitsblätter zur Marx-Engels Forschung 22, 1988, Peter
Schafmeister, Umrisse einer Grundlegung
historisch-materialistischer Dialektik in der Marxschen 'Einleitung' von 1857
und der historisch-materialistische Revolutionsbegriff im 'Vorwort' von 1859,
in: Marx-Engels-Forschung heute 2,
1990.
Ab 1989
Das Jahr 1989 bildet in mehrfacher Hinsicht einen Einschnitt. 1989/90
zerfällt mit von niemandem erwarteter Geschwindigkeit der „Realsozialismus“,
wodurch nicht nur der dogmatische „Marxismus-Leninismus“, sondern gleich der
ganze Marxismus (auch derjenige, der sich dem Realsozialismus gegenüber
kritisch verhalten hat) diskreditiert wird: der Kapitalismus scheint der
unangefochtene historische Sieger im Westen wie im Osten zu sein. Dementsprechend
häufen sich die Abgesänge auf den Marxismus auch ehemals linker Autoren. Die Diskussion
marxistischer Theorie – wenn nicht mit dem Gestus der Denunziation oder
wenigstens der Fundamentalkritik betrieben – wird zu etwas scheinbar
Anachronistischem, das in der politischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit
auf kein größeres Interesse mehr stößt. Zu den kritischen, sich jedoch nicht
auf bloße Denunziation reduzierenden Beiträgen (die allerdings über den Bereich
der Kritik der politischen Ökonomie hinausreichen) gehören unter anderem:
Helmut Fleischer, Epochenphänomen
Marxismus, Ffm., 1993, Berliner Debatte
Initial Heft 3, 1993 (Schwerpunkt: Marxismus und kein Ende?), die
Sammelbände Helmut Fleischer (Hrsg.), Der
Marxismus in seinem Zeitalter, Leipzig 1994 und Camilla Warnke, Gerhard
Huber (Hrsg.), Die ökonomische Theorie
von Marx - was bleibt?, Marburg 1998 und schließlich auch die recht
eigenwillige Auseinandersetzung mit dem Marxismus von Jacques Derrida, Marx' Gespenster, Ffm., 1995. In den Kontext
einer kritischen Aufarbeitung von Problemen marxistischer Diskussion gehören
auch die beiden bereits in den 80er Jahren erschienenen Bände von Wolfgang
Fritz Haug, Pluraler Marxismus (Bd.1,
Berlin, 1985, Bd.2, Berlin 1987).
Explizit auf die Kritik der politischen Ökonomie bezogen sind die
Beiträge von Robert Kurz und der Gruppe um die Zeitschrift Krisis (früher Marxistische
Kritik). In diesem Ansatz wird einerseits die Marxsche Kritik an der
Wertförmigkeit der Vergesellschaftung betont, andererseits wird in Marx aber
auch ein Modernisierungstheoretiker gesehen, der einer „Arbeitsontologie“
aufsitzen würde (Robert Kurz, Abstrakte
Arbeit und Sozialismus, in: Marxistische
Kritik 4, 1987; ders., Postmarxismus
und Arbeitsfetisch, in: Krisis
15, 1995). Diese durchaus interessante These wird dann allerdings mit einem
Neuaufguß der Zusammenbruchstheorie verbunden: Die „Modernisierung“ (zu deren
Ergebnissen auch der Realsozialismus gerechnet wird) stehe vor seinem
„Kollaps“, von dem das Ende des Realsozialismus nur der Vorbote sei (Robert
Kurz, Kollaps der Modernisierung,
Ffm., 1991).
Von einer neuen Phase der Diskussion der Kritik der politischen Ökonomie
läßt sich jedoch auch noch in anderer Hinsicht sprechen. Indem die MEGA2
nicht mehr wie bisher von den Instituten für Marxismus-Leninismus in
(Ost-)Berlin und Moskau, sondern von der Internationalen Marx-Engels Stiftung
(IMES) in Amsterdam herausgegeben wird, werden nicht nur die parteipolitischen
Bindungen gekappt, es findet jetzt auch eine tatsächliche Internationalisierung
des Projektes statt. Diese gewachsene Internationalisierung drückt sich sowohl
im erweiterten Kreis der Bearbeiter der einzelnen Bände als auch bei den
Autoren und Autorinnen der die MEGA begleitenden Periodika aus: den von der
IMES herausgegebenen MEGA-Studien
(seit 1994) und den im Argument-Verlag Hamburg erscheinenden Beiträge zur Marx-Engels-Forschung Neue
Folge (seit 1991).
Die MEGA2 und der mit ihr erreichte Stand editions- und
quellengeschichtlicher Forschung wurde im Westen allerdings nur recht langsam
wahrgenommen,[31] was sicher
auch mit dem in den 80er Jahren stark abgenommenen Interesse an der Marxschen
Theorie zu tun hat. Gerade ab 1989 erschienen allerdings eine Reihe von Arbeiten,
die sich den mit der MEGA und den sie begleitenden Forschungen erreichten
Wissensstand zu Nutze machten. Raúl Rojas, Das
unvollendete Projekt. Zur Entstehungsgeschichte von Marx' 'Kapital',
Hamburg, 1989 untersucht sowohl die quellengeschichtlichen Bezüge, insbesondere
zu Ricardo, als auch die Antinomien der Marxschen Darstellung. Helmut Brentel, Soziale Form und ökonomisches Objekt.
Studien zum Gegenstands- und Methodenverständnis der Kritik der politischen Ökonomie,
Opladen 1989 arbeitet heraus, daß der Marxschen Werttheorie noch vor allen
Aussagen im einzelnen ein Gegenstandsverständnis unterliegt, das von demjenigen
der klassischen politischen Ökonomie grundsätzlich unterschieden ist. Michael
Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert. Die
Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution
und klassischer Tradition (Hamburg 1991) hebt die Ambivalenzen des
Marxschen Projektes hervor: einerseits stellt es eine wissenschaftliche
Revolution dar, das mit dem theoretischen Feld der politischen Ökonomie bricht,
andererseits bleibt Marx in der konkreten Durchführung aber an vielen Stellen
diesem theoretischen Feld verhaftet, was zu einer Reihe von spezifischen
Problemen führt. Moishe Postone, Time,
labor, and social domination. A reinterpretation of Marx's critical theory
(Cambridge 1993) geht von einer Kritik des „traditionellen Marxismus“ und der
Kritischen Theorie aus und stellt das Marxsche Konzept „abstrakter Arbeit“, das
er um ein Konzept „abstrakter Zeit“ ergänzt, in den Mittelpunkt seiner
Interpretation des Kapital.
Bei den gerade genannten Texten handelt es sich um (im einzelnen
durchaus unterschiedliche) Gesamtinterpretationen der Kritik der politischen
Ökonomie. Daneben gibt es in den 90er Jahren aber noch eine ganze Reihe
wichtiger Studien zu einzelnen Problemen oder Texten. Um eine Erweiterung der
Kritik der politischen Ökonomie im Hinblick auf ökologische Fragestellungen
bemühte sich vor allem Elmar Altvater, Die
Zukunft des Marktes. Ein Essay über die Regulation von Geld und Natur nach dem
Scheitern des 'real existierenden Sozialismus', Münster 1991, sowie ders., Geld, Natur und die Reflexivität der
Gesellschaft, in: Dialektik
1992/3. Der von Diethard Behrens herausgegebene Band Gesellschaft und Erkenntnis, Freiburg 1993 versammelt eine Reihe
von Beiträgen zum Verhältnis von Erkenntnis- und Ökonomiekritik in der Kritik
der politischen Ökonomie. Judith Jánoska, Martin Bondeli, Konrad Kindle, Marc
Hofer, Das 'Methodenkapitel' von Karl Marx,
Basel 1994 ist ein umfangreicher, vor allem die ökonomietheoretischen und
historischen Quellen berücksichtigender Kommentar zum bekannten
Methodenabschnitt aus der Einleitung
von 1857. Simon Clarke, Marx's Theory of
Crisis, London 1994 rekonstruiert (auf der Grundlage der an der MEGA2
orientierten Marx-Engels Collected Works)
die Entwicklung der Marxschen Krisentheorie bis einschließlich zum Manuskript 1861-63. Einen Überblick über
die Entwicklung der Marxschen Krisentheorie seit 1857 gibt auch Michael Heinrich,
Gibt es eine Marxsche Krisentheorie?,
in: Beiträge zur Marx-Engels Forschung
Neue Folge, Hamburg 1995. Dieser Band enthält auch noch weitere Artikel zu
Problemen des dritten Bandes des Kapital,
insbesondere eine Kommentierung ausgewählter Partien des in der MEGA
erschienenen Originalmanuskriptes: Diethard Behrens, Ein Kommentar zum MEGA2-Band II/4.2. Heiner Ganßmann, Geld und Arbeit, Ffm. 1996 unternimmt in
Auseinandersetzung mit der Marxschen Geld- und Kredittheorie eine Bestimmung
der wirtschaftssoziologischen Grundlagen des modernen Kapitalismus. Studien zu
einzelnen Problemen des Kapital (u.a.
Ideologiebegriff, Lohn, Grundrente) finden sich in Hans-Georg Bensch, Frank
Kuhne u.a., Das Automatische Subjekt bei
Marx, Lüneburg 1998.
[1]Zur allgemeinen Geschichte des
Marxismus gibt es zwei recht breite, allerdings nicht mehr ganz neue Darstellungen:
Predrag Vranicki, Geschichte des
Marxismus, 2 Bde., Ffm., 1972; Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, 3 Bde., München, 1977; kürzer
gefaßt und thematisch eingeschränkter ist Perry Anderson, Über den westlichen Marxismus, Ffm., 1978. Eine Überblick über marxistische
Debatten vermitteln auch zwei wichtige Wörterbücher: Kritisches Wörterbuch des Marxismus, 8 Bde., hrsg. von Georges
Labica (Hamburg, 1983-89, franz. Originalausgabe Paris 1982) und Historisch-kritisches Wörterbuch des
Marxismus, 12 Bde., hrsg. von Wolfgang Fritz Haug (bisher erschienen Bd.
1-3, Hamburg, 1994-97).
[2]Louis Althusser betont vor allem den Bruch (vgl. dazu
auf deutsch vor allem die Aufsatzsammlungen Für
Marx, Ffm., 1968 und Ideologie und
ideologische Staatsapparate, Hamburg, 1977), andere Autoren betonen die
durchgängige Einheit (z.B. Erich Fromm, Das
Menschenbild bei Marx, Ffm., 1963; Iring Fetscher, Karl Marx und der Marxismus, München, 1967; Roger Garaudy, Die Aktualität des Marxschen Denkens
Ffm., 1969; Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Die
Dialektik der gesellschaftlichen Praxis. Zur Genesis und Kernstruktur der
Marxschen Theorie, Freiburg, 1981) oder zumindest eine kontinuierliche
Entwicklung, die zwar Verschiebungen, aber keine tiefen Brüche mit sich bringt
(z.B. Helmut Fleischer, Marx und Engels.
Die philosophischen Grundlinien ihres Denkens, Freiburg, 1970; Niels Mader,
Philosophie als politischer Prozeß,
Köln 1986, der sich aber nur mit der Zeit bis einschließlich Abfassung der Deutschen Ideologie beschäftigt;
Eberhard Braun, Aufhebung der Philosophie.
Karl Marx und die Folgen, Stuttgart 1992, sieht bereits in Marx'
Dissertation, die zentrale Frage nach der Aufhebung der Philosophie gestellt,
die dann mit unterschiedlichen Mitteln beantwortet wird) oder der Bruch wird
noch früher angesetzt (z.B. Sozialistische Studiengruppen, Entfremdung und Arbeit, Hamburg, 1980, einem Kommentar zu den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten;
Andreas Arndt, Karl Marx. Versuch über
den Zusammenhang seiner Theorie, Bochum, 1985).
[3]Insgesamt sind acht Manuskripte zum
zweiten Band erhalten, das älteste 1864/65 entstandene und in MEGA2
II/4.1 veröffentlichte, wurde von Engels nicht verwendet. Insofern beruht der
zweite Band des Kapital in der Engelsschen
Edition auf jüngeren Manuskripten als der erste und der dritte Band.
[4]Vgl. zu den von Engels vorgenommenen
Veränderungen Carl-Erich Vollgraf, Jürgen Jungnickel: Marx in Marx' Worten? Zu Engels' Edition des Hauptmanuskripts zum
dritten Buch des 'Kapitals', in: MEGA-Studien
1994/2, Berlin 1995, sowie Michael Heinrich: Engels' Edition of the Third Volume of 'Capital' and Marx's Original
Manuscript, in: Science & Society,
Vol. 60, No. 4, Winter 1996-1997.
[5]Zu diesem „Planänderungsproblem“
sowie der Bedeutung des „Kapital im Allgemeinen“ für das Kapital gibt es eine umfangreiche Debatte, vgl. u.a. Roman
Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des
Marxschen „Kapital“. Der Rohentwurf des Marxschen „Kapital“ 1857-58, Bd.1,
Ffm., 1968; Winfried Schwarz, Vom „Rohentwurf“
zum „Kapital“. Die Strukturgeschichte des Marxschen Hauptwerkes, Berlin,
1978; Manfred Müller, Auf dem Wege zum 'Kapital',
Berlin 1978; Michael Heinrich, Hegel, die
„Grundrisse“ und das „Kapital“, in: PROKLA
65, 1986, S.145-160; Wolfgang Jahn, Ist
„Das Kapital“ ein Torso? Über Sinn und Unsinn einer Rekonstruktion des
'6-Bücherplanes' von Karl Marx, in: Dialektik,
1992/3, S.127-138.
[6]Ausführlich begründet wurde der „logisch-historische“
Ansatz von Klaus Holzkamp: Die historische
Methode des wissenschaftlichen Sozialismus und ihre Verkennung durch J.
Bischoff, in: Das Argument Nr.
84, 1974. Grundlegende Einwände gegen die Engelssche Position formulierte
Heinz-Dieter Kittsteiner, 'Logisch' und
'Historisch'. Über die Differenzen des Marxschen und des Engelsschen Systems
der Wissenschaft, in: IWK, 13.Jg
1977. Auf die Differenzen zwischen den ökonomiekritischen Auffassungen von Marx
und Engels hat auch schon früh Hans-Georg Backhaus in seinen Materialien zur Rekonstruktion der Marxschen
Werttheorie hingewiesen (wieder abgedruckt in: Hans-Georg Backhaus, Dialektik der Wertform, Freiburg, 1997),
siehe zu diesen Differenzen auch Cyril Smith, Friedrich Engels and Marx's Critique of Political Economy, in: Capital & Class 62, 1997.
[7]Vgl. zu den Auseinandersetzungen um
Engels auch die beiden von Hartmut Mehringer und Gottfried Mergner herausgegebenen
Bände Debatte um Engels, Reinbek,
1973, Peter Dudek, Engels und das Problem
der Naturdialektik, in: PROKLA
24, 1976 sowie Sven-Eric Liedman Das
Spiel der Gegensätze. Friedrich Engels' Philosophie und die Wissenschaften des
19. Jahrhunderts, Ffm., 1986.
[8]Allerdings waren die politischen
Differenzen zwischen Kautsky und Luxemburg hier und in der Folgezeit nicht zu
übersehen: während für Kautsky (und die große Mehrheit der Vorkriegs-SPD) das
Festhalten an einem deterministisch interpretierten Marxismus, das bloße Warten
auf die „naturnotwendig“ erfolgende Revolution rechtfertigte, betonte Rosa
Luxemburg die Bedeutung aktiven politischen Eingreifens auch jenseits von
Wahlkampagnen (vgl. zur Politik der SPD vor 1914, die revolutionäre Rhetorik
gerne mit praktischer Anpassung verband, Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus, Ffm., 1974).
[9]Eine kritische Auseinandersetzung sowohl mit den
theoretischen Grundlagen von Luxemburgs Auffassung als auch mit der
„neoharmonischen“ Kritik von Otto Bauer daran findet sich bei Roman Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen
'Kapital', Bd. 1, Anhang II und Bd.3, 30.Kapitel, Ffm., 1968. Der Text von
Otto Bauer (Die Akkumulation des Kapitals
1912/13) ist als Anhang in der bei Ullstein, Ffm. u. Berlin, 1970
erschienenen Ausgabe des 2.Bandes des Kapital
abgedruckt.
[10]Eine eingehende Kritik an Lenins Imperialismustheorie
findet sich bei Christel Neusüß, Imperialismus
und Weltmarktbewegung des Kapitals, Erlangen, 1972; zur Kritik am
Monopolbegriff vgl. Elmar Altvater, Wertgesetz
und Monopolmacht, positiv auf den Monopolbegriff beziehen sich Jörg
Huffschmid, Begründung und Bedeutung des
Monopolbegriffs in der marxistischen politischen Ökonomie und Robert
Katzenstein, Zur Frage des Monopols, des
Monopolprofits und der Durchsetzung des Wertgesetzes im Monopoolkapitalismus
(alle drei Aufsätze in: Theorie des Monopols,
Argument Sonderband 6, Berlin 1975). – Da Lenin nicht nur mit seiner
Imperialismustheorie, sondern auch mit seinem an den späten Engels
anknüpfenden, philosophischen Hauptwerk Materialismus
und Empiriokritizismus (1909, Lenin
Werke Bd. 14, Berlin, 1962) sowie seinen vielen politischen Schriften (u.a.
Was tun? 1902; Lenin Werke Bd. 5, Berlin 1955 und Staat und Revolution, 1917; Lenin
Werke Bd. 25, Berlin 1960) außerordentlich einflußreich war und nach seinem
Tod zum Stammvater des „Marxismus-Leninismus“ gemacht wurde (wobei eine Reihe
von zeitgebundenen, auch taktisch motivierten Aussagen Lenins zu unanfechtbaren
Erkenntnissen einer neuen Etappe des Marxismus hochstilisiert wurden), seien
hier auch noch einige wichtige linke Kritiker von Lenins philosophischen und
politischen Positionen erwähnt: Anton Pannekoek Lenin als Philosoph (1938), Paul Mattick Der Leninismus und die Arbeiterbewegung des Westens (1970), beide
Texte sind enthalten in: Pannekoek, Mattick u.a.: Marxistischer Antileninismus, Freiburg, 1991, sowie Rudi Dutschke, Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen,
Berlin, 1974.
[11]Einen eigenständigen Beitrag zur
Analyse des Imperialismus legte Nikolai Bucharin (Imperialismus und Weltwirtschaft, geschrieben 1915; Wien 1929) vor,
der allerdings weit weniger rezipiert wurde als die Arbeit von Lenin.
[12]Zur Kritik des
„Marxismus-Leninismus“ und der aus ihm hervorgehenden stalinistischen Philosophie
vgl. Oskar Negt, Marxismus als
Legitimationswissenschaft, in: Nikolai Bucharin, Abram Deborin, Kontroversen über dialektischen und mechanistischen
Materialismus, Ffm., 1969; Georges Labica, Der Marxismus-Leninismus. Elemente einer Kritik, Hamburg, 1986.
[13]Vgl. zu den neueren
Auseinandersetzungen um die Stamokap-Theorie neben der in Fußnote 10 zur
Imperialismustheorie erwähnten Literatur auch: Robert Katzenstein, Zur Theorie des staatsmonopolistischen
Kapitalismus; Margaret Wirth, Zur
Kritik der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, beide in: Probleme des Klassenkampfs 8/9, 1973,
sowie den Sammelband Rolf Ebbighausen (Hrsg.), Monopol und Staat. Zur Marx-Rezeption in der Theorie des
staatsmonopolistischen Kapitalismus, Ffm., 1974.
[14]Ausgehend von der „ökonomischen“
Lesart der Kritik der politischen Ökonomie lieferte Mattick außerdem eine
Kritik des Keynesianismus: Marx und
Keynes, Ffm., 1969.
[15]Von früheren Kritiken ist allenfalls
noch Georg Adler, Die Grundlagen der Karl
Marxschen Kritik der bestehenden Volkswirtschaft, Tübingen 1887 (Hildesheim
1968) erwähnenswert, da sich detailliert auf den Text des ersten Kapital-Bandes einläßt und manchen
Gedanken von Böhm-Bawerk vorwegnimmt. Allerdings wurde diese Schrift kaum
rezipiert.
[16]Die ausführlichste Kritik an Marx
vom Standpunkt der Grenznutzentheorie aus lieferte Karl Muhs mit seinem Anti-Marx, Jena, 1927: einem
umfangreichen Kommentar zum ersten Band des Kapital,
in dem Muhs Kapitel für Kapitel, die Unhaltbarkeit praktisch jeder einzelnen
Aussage von Marx zu demonstrieren versucht. Allerdings blieb dieses Werk sowohl
von Marxisten als auch von Marx-Kritikern weitgehend unbeachtet – beiden Lagern
war es wahrscheinlich mit zuviel Liebe fürs Detail abgefaßt.
[17]Wichtige Weiterführungen von Sraffas
Ansatz (auch im Hinblick auf theoriegeschichtliche, Marx und Ricardo
betreffende Fragen) finden sich bei Pierangelo Garegnani, Kapital, Einkommensverteilung und effektive Nachfrage, Marburg
1989. Eine Darstellung auf dem Niveau eines anspruchsvollen Lehrbuches liefert
Luigi L. Pasinetti, Vorlesungen zur
Theorie der Produktion, Marburg 1988, einen Überblick über die Bedeutung Sraffas
und Perspektiven einer Weiterentwicklung gibt Klaus Schabacker, Zur Aktualität Sraffas, in: PROKLA 94, 1994.
[18]In der deutschen Übersetzung wurde
allerdings der erste, den Warenfetischismus betreffende Teil weggelassen. Für
diesen Abschnitt sollte die englische (1972) oder französische (1978) Ausgabe benutzt
werden. Vgl. auch I.I.Rubin, S.A.Bessonow u.a. Dialektik der Kategorien. Debatte in der UdSSR (1927-29), Berlin,
1975.
[19]Inhaltlich gehören auch die Ende der
20er und Anfang der 30er Jahre entstandenen Gefängnishefte
von Antonio Gramsci zu den Bemühungen um eine grundsätzliche Neubestimmung des
Marxismus, allerdings wurden sie erst nach dem zweiten Weltkrieg publiziert und
auch dann ließ eine breitere Rezeption noch Jahrzehnte auf sich warten (gegenwärtig
erscheint eine ungekürzte Ausgabe im Argument Verlag, Hamburg).
[20]Neben vielen
Einzelveröffentlichungen waren vor allem zwei Zeitschriften für das Institut
wichtig: das bereits seit 1910 von Carl Grünberg, dem ersten Institutsdirektor,
herausgegebene Archiv für die Geschichte
des Sozialismus und der Arbeiterbewegung (1910-1930) und die unter dem zweiten
Direktor, Max Horkheimer, vor allem im Exil publizierte Zeitschrift für Sozialforschung (1932-1941). Einen Überblick über
die Entwicklung dieser „Frankfurter Schule“ vermitteln Martin Jay, Dialektische Phantasie, Ffm., 1976 und
Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule,
München, 1988.
[21]Diese in den 20er Jahren einsetzende
Entwicklung eines vor allem in Westeuropa verbreiteten, eher sozialphilosophisch
als ökonomietheoretisch orientierten Marxismus, dessen Vertreter keine oder nur
eine lose Verbindung zu den Organisationen der Arbeiterbewegung hatten, wurde
von Perry Anderson nachgezeichnet und mit dem inzwischen weit verbreiteten
Begriff „westlicher Marxismus“ belegt (Über
den westlichen Marxismus, Ffm., 1978).
[22]Auguste Cornu, Karl Marx und Friedrich Engels, Leben und Werk 3 Bde., Berlin,
1954-1968 (umfaßt den Zeitraum bis 1846); Henri Lefebvre, Der dialektische Materialismus (1940; Ffm., 1966) und Probleme des Marxismus, heute (1958;
Ffm., 1965); Jean-Paul Sartre, Kritik der
dialektischen Vernunft (1960; Reinbek, 1967); Galvano Della Volpe, Für eine materialistische Methodologie,
Berlin, 1973 (enthält Texte, die bereits aus den 60er Jahren stammen); Lucio
Colletti, Hegel und der Marxismus
(1958; Ffm./Berlin, 1976) sowie die Sammlung Marxismus und Dialektik (Ffm./Berlin, 1977).
[23]Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Ffm., 1966; Herbert
Marcuse, Die Gesellschaftslehre des
sowjetischen Marxismus, Darmstadt, 1964 sowie Der eindimensionale Mensch, Darmstadt, 1967 (eine Analyse der
„Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“). Die Beiträge von Iring
Fetscher sind gesammelt in Karl Marx und
der Marxismus, München, 1967.
[24]Die französische Ausgabe bestand aus
vier Bänden, wobei die beiden ersten Bände von Louis Althusser und Etienne Balibar
verfaßt wurden. Lediglich diese beiden Bände wurden unter dem Titel Das Kapital lesen (Reinbek, 1972) – mit
vielen Fehlern – ins Deutsche übersetzt. Der dritte von Jacques Rancière
verfaßte Band erschien auf Deutsch unter dem Titel Der Begriff der Kritik und die Kritik der politischen Ökonomie von den
'Pariser Manuskripten' zum 'Kapital' (Berlin, 1972), der vierte von Roger
Establet und Pierre Macherey verfaßte Band wurde nicht ins Deutsche übersetzt.
Wichtig war auch die ebenfalls 1965 erschienene Sammlung Pour Marx, die bereits veröffentlichte Aufsätze, Althussers
enthielt. Sie erschien auf deutsch nur gekürzt (Für Marx, Ffm., 1968). Die in Für
Marx fehlenden Texte sind in dem Sammelband Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg 1977 enthalten.
Eine etwas jüngere Auseinandersetzung mit der Marxschen Methode findet sich in
Louis Althusser, Marx' Denken im Kapital,
in: PROKLA 50, 1983.
[25]Mit seinem Text Ideologie und ideologische Staatsapparate (1970, dt. im
gleichnamigen Sammelband Hamburg, 1977) lieferte
Althusser auch einen wichtigen Beitrag zur marxistischen Diskussion des
Staates. Stark von Althusser beeinflußt ist auch der staatstheoretische Ansatz
von Nicos Poulantzas, Politische Macht
und gesellschaftliche Klassen (1968; Ffm., 1974).
[26]Ein Teil dieses Werks wurde unter
dem Titel System, Struktur und
Widerspruch im 'Kapital' auf Deutsch veröffentlicht (Berlin, 1970).
[27]Vor allem die Schriften Negris
bildeten die theoretische Grundlage der „operaistischen“ Gruppen der 70er
Jahre. In der Bundesrepublik wurden operaistische Positionen vor allem von Karl
Heinz Roth, Die andere Arbeiterbewegung,
Köln, 1974 sowie den Zeitschriften Autonomie
und Autonomie. Neue Folge vertreten.
Eine gewisse sympathisierende Distanz zum Operaismus und den Arbeiten Negris
haben auch die Analysen von Johannes Agnoli, die in Überlegungen zum bürgerlichen Staat, Berlin, 1975 gesammelt sind
(eine Gesamtausgabe der Schriften Agnolis erscheint im Verlag ca ira,
Freiburg).
[28]Fortgeführt und mit der
Regulationstheorie verbunden wurde dieser Ansatz vor allem von Joachim Hirsch
(vergl. u.a.: Nach der
"Staatsableitung". Bemerkungen zu einer Reformulierung der
materialistischen Staatstheorie, in: Aktualisierung
Marx' Argument Sonderband 100, Hamburg 1983; Kapitalismus ohne Alternative, Hamburg 1990; Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im
globalen Kapitalismus, Berlin 1995).
[29]Die Auffassung von der „Modifikation
des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt“ wurde unter anderem vertreten von: Christel
Neusüß, Bernhard Blanke, Elmar Altvater: Kapitalistischer
Weltmarkt und Weltwährungskrise, in: Probleme
des Klassenkampfs 1, 1971; Busch/Schöller/Seelow, Weltmarkt und Weltwährungskrise, Bremen 1971; Christel Neusüß, Imperialismus und Weltmarktbewegung des
Kapitals, Erlangen 1972. Kritisch dazu: Tilla Siegel: Wertgesetz und Weltmarkt. Eine Kritik am Theorem der modifizierten
Wirkungsweise des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt, in: Mehrwert 21, 1979. In unterschiedlicher Weise unterstellten einen
„Werttransfer“ unter anderem Andre Gunder Frank, Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika, Ffm 1969 (Frank
war einer der wichtigsten Vertreter der „Dependenztheorie“, die die
Unterentwicklung der sog. 3. Welt gerade als Folge ihrer Integration in den
kapitalistischen Weltmarkt interpretierte), Arghiri Emmanuel, L'échange inégal. Essai sur les antagonismes
dans les rapport économiques internationaux, Paris 1969, Ernest Mandel, Der Spätkapitalismus, Ffm 1972. Vgl. zur
Kritik am Konzept des „ungleichen Tausches“: Wolfgang Schöller: Werttransfer und Unterentwicklung (anhand
von E. Mandel, Der Spätkapitalismus), in: Probleme des Klassenkampfs 6, 1973, Klaus Busch: Ungleicher Tausch – zur Diskussion über
internationale Durchschnittsprofitrate, ungleichen Tausch, komparative
Kostentheorie anhand der Thesen von Arghiri Emmanuel, in: Probleme des Klassenkampfs 8/9, 1973.
[30]Daher wurde zuweilen auch gefolgert,
das Studium Hegels sei Voraussetzung für die Lektüre des Kapital und mancher Kapital-Kurs
der 70er Jahre setzte daher mit einem Abriß von Hegels Logik ein. Abgesehen davon, daß die Diskussion der Beziehung
Marx-Hegel bereits eine gewisse Kenntnis beider Autoren voraussetzt und daher
kaum am Anfang der Beschäftigung mit einem von beiden stehen sollte, wurde die
These, daß Marx' Kritik der politischen Ökonomie eine „Anwendung“ der
Hegelschen Logik darstelle, auch heftig kritisiert, so etwa in den schon
erwähnten Büchern von Louis Althusser (Das
Kapital lesen, Reinbek 1972) und Hermann Kocyba (Widerspruch und Theoriestruktur, Ffm. 1979).
[31]Im Westen wurde die MEGA zunächst
vor allem im deutschsprachigen Raum (und in Japan) rezipiert. Mit den seit 1975
auf der Grundlage der MEGA erscheinenden Marx
Engels Collected Works gibt es inzwischen aber auch eine umfangreiche
englische Ausgabe, die in der wissenschaftlichen Diskussion zunehmend Bedeutung
erlangt.