Michael
Heinrich
Der 6-Bücher-Plan und der Aufbau des Kapital.
Diskontinuierliches in Marx’ theoretischer
Entwicklung
(in: Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition
e.V., Wissenschaftliche Mitteilungen, Heft 1: In Memoriam Wolfgang Jahn, Hamburg 2002, S.92-101)
Persönlich lernte ich Wolfgang Jahn erst 1991 bei
einem von der AG Marx-Engels-Forschung des IMSF in Frankfurt am Main
veranstalteten Kolloquium kennen.[1]
Hier begegnete mir ein sehr offener, warmherziger und diskussionsfreudiger Mensch,
den ich dann leider nur noch bei sehr wenigen Gelegenheiten wiedersehen konnte.
Insofern ist dieser Text auch die Fortsetzung einer nicht zu Ende geführten
Debatte.
Schon vor
unserer ersten Begegnung in Frankfurt kannte ich viele Veröffentlichungen
Wolfgang Jahns, seine Beiträge in den Marx-Engels-Jahrbüchern, in
Sammelbänden, wie denen zum Manuskript 1861–63,[2]
und vor allem seine Aufsätze in den Arbeitsblättern zur
Marx-Engels-Forschung. Die Arbeitsblätter, kleine gebundene
Heftchen, die ohne besonderes Layout in einfachster Form hergestellt und in nur
geringer Auflage seit 1976 von Wolfgang Jahn und anderen an der Universität
Halle herausgegeben wurden, waren lediglich für einen kleinen Kreis von
Marx-Forschern vor allem in der DDR bestimmt. Durch irgendwelche Umstände
hatten sie allerdings auch den Weg in die Zentralbibliothek der Freien
Universität in Berlin (West) gefunden und dort hatte ich sie dann irgendwann in
den 80er Jahren entdeckt.
Aus
mehreren Gründen stellten die von Wolfgang Jahn und seiner Forschungsgruppe
geprägten Arbeitsblätter für mich eine überaus interessante Erfahrung
dar. Meine politische Sozialisation hatte ich in den 70er Jahren in der BRD, in
einer von Parteien unabhängigen Linken, die sich deshalb gerne als
„undogmatisch“ bezeichnete, erhalten. Diese „undogmatische Linke“ bestand aus
zahlreichen Gruppen und Grüppchen, die oft genug ihren je eigenen Dogmatismus
pflegten und ihn sich wechselseitig um die Ohren schlugen. Gemeinsam war dieser
Linken jedoch, dass sie gleichermaßen den westdeutschen Kapitalismus, wie das
autoritäre staatssozialistische Modell der DDR kritisierte. Sie verstand sich
selbst zwar als mehr oder weniger marxistisch und kritisierte die „bürgerliche
Wissenschaft“, ebenso kritisierte sie aber auch den parteioffiziellen Marxismus
der realsozialistischen Länder als eine dogmatisch erstarrte
Legitimationsideologie. Die vielfältigen Versuche einer „Rekonstruktion der
Kritik der politischen Ökonomie“, die es in den 70er Jahren in der BRD gegeben
hatte, verdankten sich nicht zuletzt dieser doppelten Frontstellung: es sollte
nicht nur endlich der „ganze Marx“ für die Analyse der gegenwärtigen
kapitalistischen Verhältnisse fruchtbar gemacht werden (und eben nicht nur, wie
meistens in der Geschichte der Arbeiterbewegung nur der erste Band des Kapital,
sondern auch die Grundrisse, die Resultate des unmittelbaren
Produktionsprozesses etc.), darüber hinaus sollte die marxsche
Ökonomiekritik auch von all den Verflachungen und Verzerrungen abgesetzt
werden, die sich in einem zur „Weltanschauung“ kanonisierten
„Marxismus-Leninismus“ fanden.
In den
Beiträgen der Arbeitsblätter wurde nun nicht nur mit großer Akribie
textkritisch am und mit dem marxschen Werk gearbeitet (wovon auch schon die
bereits erschienenen Bände der MEGA² zeugten[3]),
vor allem wurde die marxsche Kritik der politischen Ökonomie hier als ein
unabgeschlossenes Projekt aufgefasst,
das auch auf einer grundsätzlich theoretischen
Ebene weiterzuführen ist und nicht als ein längst fertiges Unternehmen, aus dem
man sich lediglich mit den entsprechenden Zitaten bedienen muss. Das in Halle
von Wolfgang Jahn und seiner Forschungsgruppe verfolgte Projekt einer auf die
marxschen Manuskripte und Exzerpte gestützten inhaltlichen Rekonstruktion des
6-Bücher-Plans[4]
war in gewisser Hinsicht das ostdeutsche Pendant zu den westdeutschen Rekonstruktionsvorhaben;
ein Projekt, von dem sich unschwer absehen ließ, das es bei konsequenter
Weiterverfolgung, irgendwann auch mit den Dogmen des parteioffiziellen
„Marxismus-Leninismus“ frontal zusammenstoßen würde[5]
– tatsächlich beendigt wurde das Projekt jedoch durch den Zusammenstoß der DDR
mit der BRD.
Wolfgang
Jahns Versuch einer Rekonstruktion des 6-Bücher-Plans[6]
tangierte auch meine ganz persönlichen Arbeitsschwerpunkte: An der FU Berlin
hatte ich 1982 eine Untersuchung über die Bedeutung des „Kapital im Allgemeinen“
in den Grundrissen und im Kapital als Diplomarbeit im Fach
Politikwissenschaft eingereicht; dabei ging es mir vor allem um Unterscheidung
zwischen dem „Kapital im Allgemeinen“ und der „Konkurrenz“ und davon ausgehend
um eine Untersuchung der Änderung des Aufbauplans zwischen den Grundrissen
und dem Kapital.[7]
Das
Hallenser Projekt, den 6-Bücher-Plan inhaltlich aus den marxschen Vorarbeiten
und Exzerpten zu rekonstruieren, war ein gewaltiges Unternehmen. Für die
Untersuchung der Entstehung der marxschen Kritik der politischen Ökonomie war
es von einer kaum zu überschätzenden Bedeutung. Angetrieben wurde dieses
Projekt darüber hinaus von der Auffassung, dass der 6-Bücher-Plan auch noch den
konzeptionellen Rahmen für das Kapital abgab, wie es Marx nach
Beendigung seiner Arbeit am Manuskript 1861–63 als selbständiges Werk entwarf.
Auch wenn man diese These, eines seit
1857 in seiner Grundanlage unveränderten Plans der Kritik der politischen
Ökonomie in Frage stellen kann (und einige Argumente in dieser Richtung sollen
im folgenden skizziert werden), schmälert dies nicht im mindesten die enorme
Bedeutung des von Wolfgang Jahn und seiner Forschungsgruppe verfolgten Vorhabens.
Denn zum einen ist unbestritten, dass der 6-Bücher-Plan auf jeden Fall bis 1862
für das marxsche Unternehmen maßgebend war. Zum anderen kann man die Bedeutung
einer Diskussion des Aufbauplans nicht hoch genug ansetzen: Was Marx den
Kompendien der bürgerlichen Ökonomie vorwarf, dass sie „in ihrer brutalen
Interessirtheit für den Stoff jeden Formunterschied vernachlässigen“,[8]
trifft in gewisser Hinsicht auch für viele marxistische Traditionen des Umgangs
mit dem marxschen Werk zu: brutal am „Inhalt“ der Kategorien interessiert, dass
Wert auf Arbeit und Mehrwert auf Ausbeutung zurückgeführt werden kann, wurden
lange Zeit nicht nur Themen wie die Wertformanalyse, sondern auch die
Untersuchung des Aufbaus der Kritik der politischen Ökonomie vernachlässigt und
in ihrer Relevanz verkannt. Der kategoriale Aufbau der Darstellung war für Marx
aber keineswegs nur eine didaktische oder pragmatische Frage, die im
subjektiven Belieben eines Autors stand und die im Grunde auch anders hätte beantwortet
werden können (was so manche „Einführung“ ins Kapital unterstellt). Der
Aufbau der Darstellung ist gegenüber dem dargestellten Gegenstand nicht
gleichgültig: er transportiert vielmehr eine spezifische Information über den
Zusammenhang der Kategorien und die Abstraktionsebene, auf der diese Kategorien
angesiedelt sind.[9]
Gerade
weil der Aufbauplan für die Darstellung inhaltlich relevant ist, hängt dessen
Formulierung ganz erheblich von der vorgängigen theoretischen Durchdringung des
Gegenstands ab. In dem Maße, in dem diese Durchdringung vertieft wird, wird
sich daher auch der Aufbauplan ändern; die Frage ist allerdings, in welchem
Umfang eine solche Änderung tatsächlich erfolgt ist. Während Marx 1859 im
Vorwort des ersten Heftes von Zur Kritik der politischen Ökonomie
explizit auf den 6-Bücher-Plan verweist und die Darstellung unter die
Überschrift „Abschnitt I. Das Kapital im allgemeinen“ gestellt wird,[10] ist
in den nach Mitte 1863 entstandenen Manuskripten zum Kapital nicht mehr
davon die Rede. Marx verzichtet ab Mitte 1863 (sowohl in sämtlichen
Manuskripten als auch im Briefwechsel!) konsequent auf die Verwendung des
Begriffs „Kapital im Allgemeinen“, der zwischen 1857 und 1862 für die
Darstellungsstruktur von zentraler Bedeutung war. Ebenso äußert sich Marx nicht
mehr zum 6-Bücher-Plan. Zwar spricht er auch noch im Kapital an
verschiedenen Stellen von „speziellen Lehren“ zur Konkurrenz, Lohnarbeit und
Grundeigentum, die außerhalb der Darstellung im Kapital liegen, doch
macht er nicht explizit deutlich, ob es sich dabei um die ursprünglich
vorgesehenen Abschnitte des ersten Buches bzw. das zweite und dritte Buch (über
Grundeigentum bzw. Lohnarbeit) handelt oder nicht. Andererseits enthalten die
drei Bände des Kapital eine Reihe von Themen, die ursprünglich wohl eher
für die Bücher über Lohnarbeit und Grundeigentum vorgesehen waren. Die Frage
ist nun, wie stark sich der ursprüngliche 6-Bücher-Plan im Laufe der 60er Jahre
verändert hat und ob er auch noch für die ab 1863/64 entstandenen Kapital-Manuskripte
relevant ist. Und falls dieser Aufbauplan noch relevant ist, stellt sich gleich
die nächste Frage: Wie viel von diesem Plan wurde innerhalb der drei Kapital-Bände
realisiert?
Wolfgang
Jahn betonte sehr entschieden die fortdauernde Gültigkeit des 6-Bücher-Plans.
Mit den drei Bänden des Kapital sei keineswegs bereits das gesamte erste
Buch „Vom Kapital“ realisiert worden, vielmehr handle es sich um eine
erweiterte Darstellung des ursprünglich geplanten Abschnitts vom „Kapital im
Allgemeinen“, wobei diese Erweiterung insbesondere durch die Einbeziehung des
Gesamtreproduktionsprozesses (am Ende des zweiten Bandes) und der
Durchschnittsprofitrate (im dritten Band) erfolgt sei. Diese Erweiterung sei
auch der Grund dafür gewesen, dass Marx ab Ende 1863 auf den Begriff „Kapital
im Allgemeinen“ verzichtet habe. Mit dieser erweiterten Darstellung des
„Kapital im Allgemeinen“ sei aber weder der 6-Bücher-Plan noch die
viergliedrige Einteilung des ersten Buches obsolet geworden: die drei
Abschnitte „Konkurrenz“, „Kredit“ und „Aktienkapital“ des ersten Buches blieben
noch genauso zu schreiben wie die fünf Bücher über Grundeigentum, Lohnarbeit,
Staat, Außenhandel und Weltmarkt.[11]
Entgegen dem gerade skizzierten
Bild, das vor allem die Kontinuität im Aufbau der Kritik der politischen
Ökonomie hervorhebt, lassen sich aber auch einige Argumente finden, die
plausibel machen, dass wir es vielleicht doch mit einem höheren Maß an
Diskontinuität zu tun haben, als von Wolfgang Jahn angenommen wurde.
Zunächst
scheint mir die Tatsache, dass Marx ab Mitte 1863 konsequent auf den früher
zentralen Begriff „Kapital im Allgemeinen“ verzichtet und auch den
6-Bücher-Plan nicht mehr erwähnt, ein Indiz für eine einschneidende Veränderung
des Aufbauplans zu sein. Allerdings muss eine derartige Veränderung an den
vorliegenden Texten en detail ausgewiesen werden; die entsprechenden Argumente
kann ich hier nur skizzieren.[12]
Der
6-Bücher-Plan, den Marx 1857/58 formulierte, war das Resultat seiner in London
erneut aufgenommenen ökonomischen Studien (wie sie in den Londoner Heften
vorliegen, deren Edition im Rahmen der MEGA² unter der Leitung von Wolfgang
Jahn begonnen wurde) und der Arbeit an den Grundrissen. Marx war sich
während der 50er Jahre darüber klar geworden, dass die Konkurrenz nicht die
Ursache der „ökonomischen Gesetze“ bildet, sondern diese nur exekutiert. Daraus
folgerte er, dass die ökonomischen Gesetze unabhängig von der Konkurrenz der
Kapitalien erklärt werden müssen, d.h. auf einer ganz anderen theoretischen
Ebene, als von der bürgerlichen Ökonomie unterstellt wird, die stets von der
Konkurrenz als Voraussetzung ausgeht. Diese
grundlegende Einsicht, mit der Marx auch über seine eigenen Auffassungen aus
den 1840er Jahren hinausgeht, wo er die Konkurrenz noch als Erklärungsgrund akzeptiert
hatte, bleibt auch fortan bestehen. Der 6-Bücher-Plan und insbesondere der
Aufbau des ersten Buches mit seiner prinzipiellen Unterscheidung zwischen
Kapital im Allgemeinen und Konkurrenz ist allerdings nur der erste Versuch diese Einsicht kategorial
zu fixieren.
Im
Manuskript von 1861–63 ging Marx dann an die systematische Ausarbeitung des
Abschnitts vom „Kapital im Allgemeinen“. An diesen Abschnitt stellte er eine
doppelte Anforderung, eine inhaltliche
und eine methodische: es sollten
einerseits alle Bestimmungen des Kapitals entwickelt werden, die in der
Konkurrenz erscheinen, andererseits sollte diese Kategorienentwicklung ohne
jeden Bezug auf die Konkurrenz und das Einzelkapital auskommen.[13]
Am
Manuskript 1861–63 lässt sich nun zeigen, dass diese doppelte Anforderung nicht
durchgehalten werden kann und darin scheint mir die eigentliche Ursache für
diejenigen Veränderungen zu liegen, die Wolfgang Jahn als inhaltliche
Erweiterung des Abschnitts vom Kapital im Allgemeinen interpretierte. Um alles das
inhaltlich zu entwickeln, was in der Konkurrenz nur erscheint, muss die mit dem
Kapital im Allgemeinen angestrebte Abstraktionsebene verlassen werden:
Allgemeines und Einzelnes kann nicht in der ursprünglich anvisierten Art und
Weise einander gegenübergestellt werden. Die Konsequenz scheint mir aber nicht
nur eine inhaltliche Erweiterung des Abschnitts vom Kapital im Allgemeinen zu
sein, unter Beibehaltung der übrigen Darstellungsstruktur – das Kapital im
Allgemeinen lässt sich gar nicht „erweitern“ ohne zugleich die gesamte
viergliedrige Struktur des Buches vom Kapital aufzusprengen. Eine ähnliche
Überlegung lässt sich auch bezüglich der Themen aus den Büchern über Lohnarbeit
und Grundeigentum anstellen, die, was hier ebenfalls nicht ausgeführt werden
kann, aus systematisch notwendigen Gründen in die drei Kapital-Bände
aufgenommen wurden: mit der Integration dieser Themen ins Kapital ist
das Konzept einer in verschiedenen Büchern getrennten Darstellung von Kapital,
Grundeigentum und Lohnarbeit unmöglich geworden. Zwar hat Wolfgang Jahn völlig
recht, wenn er betont, dass die drei Bände des Kapital inhaltlich nicht
den gesamten Bereich der ursprünglich vorgesehenen Abschnitte über Konkurrenz,
Kredit und Aktienkapital sowie der Bücher über Lohnarbeit und Grundeigentum
umfassen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass das, was im Kapital inhaltlich noch fehlt, sich jetzt auf
einer ganz anderen Abstraktionsebene
befindet, als die im ursprünglichen Plan vorgesehenen Abschnitte und Bücher.
Insofern beschreibt Marx den methodischen Status dieses nicht ins Kapital
aufgenommenen Materials durchaus präzise, wenn er von „speziellen Lehren“
spricht (die eben nicht mit den ursprünglich vorgesehenen selbständigen Büchern
vergleichbar sind): mit der Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise
„in ihrem idealen Durchschnitt“,[14]
die Marx für die drei Kapital-Bände
beansprucht, haben diese speziellen Lehren nichts mehr zu tun. Im Ergebnis sind
die drei Bände des Kapital zwar nicht
vom gesamten Inhalt, aber von ihrer methodischen Bedeutung her, an die Stelle
der ursprünglich vorgesehenen ersten drei Bücher des 6-Bücher-Plans getreten.
Diese
Aussage muss noch in einer wichtigen Hinsicht ergänzt werden. Methodisch war
für den ursprünglichen 6-Bücher-Plan die Entgegensetzung von „Kapital im
Allgemeinen“ und „Konkurrenz“ von zentraler Bedeutung. Wenn die These richtig
ist, dass sich diese Entgegensetzung in ihrer ursprünglichen Art und Weise (die
auf der doppelten Anforderung beruhte, die an die Darstellung des „Kapital im
Allgemeinen“ gestellt wurde) nicht mehr aufrecht erhalten lässt, dann muss man
fragen, welches Strukturprinzip an die Stelle dieser Entgegensetzung getreten
ist. Auch Wolfgang Jahn stellte sich die Frage, welches neue Strukturprinzip
die Darstellung beherrscht, nachdem es zu der von ihm als Erweiterung des
Abschnitts vom „Kapital im Allgemeinen“ aufgefassten Veränderung des
Aufbauplans gekommen war. Dieses neue Strukturprinzip sah er im „ökonomischen
Bewegungsgesetz“ von dem Marx im Vorwort zur Erstauflage des ersten Kapital-Bandes spricht, näher im
„Mehrwertgesetz, dessen Formen im Produktionsprozeß, im Zirkulationsprozeß und
im Gesamtprozeß des Kapitals im Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten strukturell-genetisch
entwickelt werden“.[15]
Zwar ist es richtig, dass Marx dem Mehrwert und seinen verschiedenen Gestaltungen
im Kapital nachspürt, aber allein
daran das Spezifische der neuen Darstellungsstruktur festzumachen wird kaum
ausreichen, denn um die Darstellung der verschiedenen Formen des Mehrwerts ging
es auch schon früher.
Entscheidend
für die methodische Struktur der Darstellung im Kapital scheint mir der Unterschied von „individuellem Kapital“ und
„gesellschaftlichem Gesamtkapital“ zu sein, wobei das „individuelle Kapital“
allerdings nicht mit dem empirisch auftretenden Einzelkapital verwechselt
werden darf. Die Probleme, die Marx im Manuskript von 1861–63 mit der
Darstellung des Gesamtreproduktionsprozesses und des Ausgleichs zur
Durchschnittsprofitrate hatte, bestanden darin, dass er noch vor der Darstellung der Konkurrenz, das
Verhältnis von Gesamtkapital und individuellem Kapital zu betrachten hatte, die
Darstellung des Kapital im Allgemeinen aber so konzipiert war, dass von
individuellen wie von besonderen Kapitalien (wie sie mit der Unterscheidung in
eine Produktionsmittel produzierende und eine Konsumtionsmittel produzierende
Abteilung auftreten) abstrahiert wurde. In der neuen Darstellungsstruktur geht
Marx von dem aus, was er auf der jeweiligen Darstellungsstufe über das
individuelle Kapital aussagen kann und betrachtet anschließend auf dieser Stufe
die Konstitution des gesellschaftlichen Gesamtkapitals und die Grenzen, die das
Gesamtkapital der Bewegung der Einzelkapitale setzt: im ersten Band wurde
zunächst der unmittelbare Produktionsprozess, „der auf jedem Punkt als Prozeß
eines individuellen Kapitals sich darstellt“[16]
untersucht. Von der Interaktion der Kapitalien kann dabei abstrahiert werden.
Im 23. Kapitel des ersten Bandes beginnt dann die Darstellung des
gesellschaftlichen Gesamtkapitals. Da sich die individuellen Kapitale auf der
erreichten Darstellungsstufe nur durch ihre Größe und organische
Zusammensetzung unterscheiden, können auch nur diesbezügliche Aussagen über das
gesellschaftliche Gesamtkapital gemacht werden. Aber bereits auf dieser abstrakten
Darstellungsstufe wird insbesondere in den ersten beiden Unterabschnitten des
23. Kapitels deutlich, wie sich die Bewegung des Gesamtkapitals auf die
Einzelkapitale auswirkt. Im zweiten Band des Kapital wird dann Kreislauf und Umschlag als Prozess eines
individuellen Kapitals analysiert,[17]
um dann im dritten Abschnitt wieder die Konstitution des gesellschaftlichen
Gesamtkapitals auf der jetzt erreichten Darstellungsstufe zu betrachten: als
Verschlingung der Umschläge der individuellen Kapitale. Indem der
Reproduktionsprozess eine bestimmte stoffliche und wertmäßige Proportionierung
erfordert, werden ebenfalls wieder die Schranken deutlich, die das
Gesamtkapital den Einzelkapitalen setzt. Auch im dritten Band wird die
Verwandlung von Mehrwert in Profit zunächst als Prozess des individuellen
Kapitals untersucht, um dann auf dieser Grundlage die Konstitution des
gesellschaftlichen Gesamtkapitals darzustellen: die Verwandlung von Profit in
Durchschnittsprofit.
Damit hat
die in den 1850er Jahren von Marx gewonnene Einsicht, dass die Gesetze des
Kapitals nicht aus der Konkurrenz erklärt werden können, sondern auf einer der
Konkurrenz vorgängigen Ebene behandelt werden müssen, eine neue Form der
kategorialen Fixierung erhalten: es ist jetzt nicht mehr die Gegenüberstellung
von Kapital im Allgemeinen und Konkurrenz, sondern die stufenweise Behandlung
von individuellem Kapital und gesellschaftlichem Gesamtkapital, welche die
Darstellung strukturiert.
Ausgeschlossen
aus dieser Darstellung bleibt die „wirkliche Bewegung der Konkurrenz“,[18] d.h.
die konkreten Formen, in denen sich die Bewegungsgesetze des Kapitals
historisch durchsetzen, wobei diese Durchsetzung von historischen und
institutionellen Gegebenheiten abhängen und deshalb gerade nicht auf der
abstrakten Darstellungsebene des Kapital
behandelt werden können. Gerade bei der Darstellung von Krise und Kredit im
dritten Band des Kapital lässt sich
darüber streiten, wo diese Grenze genau verläuft und inwieweit die Marxsche
Darstellung selbst nicht nur unabgeschlossen, sondern auch inkonsistent ist.
Die Diskussion des Aufbauplans der
Kritik der politischen Ökonomie und seiner Veränderungen, eine Debatte, zu der
Wolfgang Jahn entscheidende Beiträge geliefert hat, schärft nicht nur den Blick
für die Entwicklung der Kritik der politischen Ökonomie, diese Diskussion ist
vor allem für die Frage relevant, was Marx im Kapital tatsächlich dargestellt hat und was nicht. Insofern wird
sich keine tiefere Lektüre des Kapital
um die Frage des Aufbauplans herumdrücken können. Darüber hinaus macht diese
Diskussion auch deutlich, dass die in der Arbeiterbewegung vorherrschende
Beschränkung auf die Rezeption des ersten Bandes nicht nur zu einer
unvollständigen, sondern zu einer verzerrten, dem Dogmatismus Vorschub
leistenden Wahrnehmung der Kritik der politischen Ökonomie führt, vor der
Wolfgang Jahn eindringlich warnte:
„Die Bände
Zwei und Drei spielten im praktischen Bewußtsein der marxistischen
Arbeiterbewegung gegenüber dem ersten Band eine untergeordnete Rolle, und sie
wurden auch von den meisten marxistischen Ökonomen nur unbefriedigend
reflektiert. Der erste Band ist zwar das tragende Fundament des gesamten
ökonomischen Hauptwerkes. Bleibt man aber bei dem Fundament stehen und baut
darauf nicht die fehlenden Etagen des Besonderen und Einzelnen auf, besitzt man
kein Bewohnbares wissenschaftliches Gebäude. Bleibt man in den abstrakt allgemeinen
Grundlagen stecken, engt man das allgemeine Blickfeld ein und gerät in Gefahr,
diese in lebensfremde Dogmen zu verwandeln.“[19]
[1] Siehe das
Konferenzbändchen: Defizite im Marxschen Werk (Marx-Engels-Forschung Heute 4),
Frankfurt/M. 1992, hier die Aufsätze: Wolfgang Jahn: Die Problemantinomie in der
Entwicklung von Ware, Wert und Geld zwischen dem esoterischen und exoterischen
Werk von Karl Marx und die Folgen, S. 16–26; Michael Heinrich: Defizite der
Marxschen Rezeption der klassischen politischen Ökonomie, S. 43–53.
[2] Siehe z.B.
die Aufsätze von Wolfgang Jahn in: ...unserer Partei einen Sieg erringen.
Studien zur Wirkungsgeschichte des „Kapitals“ von Karl Marx, Berlin 1978; Der
zweite Entwurf des „Kapitals“, Analysen Aspekte Argumente, Berlin 1983.
[3] Zwar waren
die Einleitungen zu den jeweiligen Textbände immer noch sehr stark von den
vereinfachenden Vorstellungen des offiziellen Marxismus-Leninismus durchtränkt,
dafür boten aber die Abschnitte „Entstehung und Überlieferung“ in den
Apparatbänden eine weitaus differenziertere Sicht auf die Entwicklung der
marxschen Theorie.
[4] 1857/58
hatte Marx während der Niederschrift der Grundrisse
den Plan entwickelt, seine Kritik der politischen Ökonomie (so der Titel
des gesamten Unternehmens) im Rahmen von 6 Büchern (Kapital, Grundeigentum,
Lohnarbeit, Staat, Außenhandel, Weltmarkt) darzustellen (siehe MEGA² II/2, S.
99). Dabei sollte das Buch vom Kapital vier Abschnitte umfassen: Kapital im
Allgemeinen, Konkurrenz, Kredit, Aktienkapital (siehe Marx an Engels, 2. April
1858. In: MEW 29, S. 312).
[5] Oder aber
dessen Dogmen aufbrechen würde, was zumindest an einem der von Wolfgang Jahn
bearbeiteten Punkte noch kurz vor dem Ende der DDR geschehen ist: Rolf Hecker
verweist in seinem Beitrag zu diesem Band darauf, dass im letzten Lehrbuch für
politischen Ökonomie des Kapitalismus und Sozialismus aus dem Jahr 1988 mit der
lange vorherrschenden Tradition einer historisierenden Interpretation der
ersten Kapitel des Kapital (im Sinne
der Darstellung einer vorkapitalistischen, einfachen Warenproduktion) gebrochen
wurde (siehe S. 87).
[6] Siehe dazu
u.a.: Wolfgang Jahn: Zur Entwicklung der Struktur des geplanten ökonomischen
Hauptwerkes von Karl Marx. In: Arbeitsblätter zur Marx-Engels Forschung, H. 20,
Halle 1986, S. 6–44; Wolfgang Jahn: Ist Das
Kapital ein Torso? Über Sinn und Unsinn einer Rekonstruktion des
‚6-Bücherplans’ von Karl Marx. In: Zur Kritik der politischen Ökonomie – 125
Jahre Das Kapital (DIALEKTIK), 1992/3, S. 127–138.
[7] Siehe die
Kurzfassung in: Hegel, die ‚Grundrisse‘ und das ‚Kapital‘. In: PROKLA 65, Dezember 1986, S. 145–160;
eine englische Version: Capital in general and the structure of Marx’s Capital.
In: Capital & Class, No.
38, 1989, S.63–79.
[9] Daher
befindet man sich, was hier nicht weiter ausgeführt werden kann, mit der
Untersuchung des Aufbauplans im inhaltlichen
Zentrum des Problems „Was heißt dialektische Darstellung bei Marx?“, ein
Problem, das nun jenseits der gängigen Floskeln wie „Bewegung in Widersprüchen“
etc. diskutiert werden kann.
[10] Siehe MEGA²
II/2, S. 107; MEW 13, S.15.
[11] Siehe dazu
ausführlich: Wolfgang Jahn: Zur Entwicklung der Struktur, a.a.O.
[12] Ausführlicher
finden sich diese Überlegungen in: Michael Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert,
2. überarb. Auflage, Münster 1999, Kapitel 5, S. 160–195.
[13] Diese doppelte
Bestimmung des Kapital im Allgemeinen wird bereits im ersten Drittel der Grundrisse
deutlich, wo es u.a. heißt: „Das Capital, soweit wir es hier betrachten, als zu
unterscheidendes Verhältniß von Werth und Geld ist das Capital im Allgemeinen,
d.h. der Inbegriff der Bestimmungen, die den Werth als Capital von sich als
blossem Werth oder Geld unterscheiden. Aber wir haben es weder noch mit einer
besondren Form des Capitals zu thun, noch mit dem einzelnen Capital als
unterschieden von andren einzelnen Capitalien etc.“ (MEGA² II/1.1, S.229).
[14] MEGA² II/4.2, S. 853; MEW 25, S.839.
[15] Wolfgang Jahn:
Zur Entwicklung der Struktur, a.a.O., S. 32.
[16] MEW 24, S. 393.
[17] Siehe MEW 24,
S. 353.
[18] MEGA² II/4.2, S.853; MEW 25, S. 839.
[19] Wolfgang Jahn: Ist
Das Kapital ein Torso?, a.a.O., S.
134f.