Michael Heinrich

„Entfesselter Kapitalismus“? – Zur Kritik der Globalisierungskritik

in: Antifaschistische Aktion Berlin (Hrsg.): Global Resistance, Berlin 2002, S.18-23

 

I.

Was von den Medien seit geraumer Zeit unter dem Schlagwort „Globalisierungskritiker“ zusammengefaßt wird, ist eine sowohl von ihren politischen Wurzeln (in kirchlichen und gewerkschaftlichen Gruppen, in entwicklungs- und sozialpolitischen Initiativen etc.) als auch von ihren Analysen, Aktionsformen und Zielen her äußerst heterogene Bewegung. Allgemeine Aussagen über „die“ Globalisierungskritiker sind daher mit Vorsicht zu genießen. Wenn ich mich im folgenden mit dem Kapitalismus- und Staatsverständnis dieser Bewegung auseinandersetze, so beziehe ich mich in erster Linie auf deren medienwirksamen Mainstream.

Zentral für die Mehrheit der Bewegung ist die Kritik an der zunehmenden Verarmung der Länder des Südens sowie an Arbeitslosigkeit und Sozialabbau in den entwickelten kapitalistischen Ländern des Nordens. Als Ursache der kritisierten Entwicklungen wird die „neoliberale Globalisierung“ angesehen, die einen „Raubtierkapitalismus“ hervorgebracht habe. Sehr grob lassen sich die Auffassungen über die kapitalistische Entwicklung der vergangenen 30 oder 40 Jahre, die dieser Vorstellung eines „entfesselten Kapitalismus“ zugrunde liegen, ungefähr so zusammenfassen:

In den 60er und frühen 70er Jahren gab es einen Kapitalismus, der in jedem Land mehr oder weniger staatlich reguliert und durch sozialstaatliche Einrichtungen abgefedert war. In den 70er Jahren beginnt jedoch die „Liberalisierung“ der Finanzmärkte: der Staat zieht sich aus ihrer Kontrolle weitgehend zurück. Es entstehen jetzt nicht nur neue spekulative Anlageformen und riesige internationale Kapitalbewegungen, die immer wieder zu Währungskrisen führen, es wächst auch von Seiten der Kapitalanleger (Aktionäre, Banken, Investmentfonds) der Druck auf die produzierenden Unternehmen nicht nur Gewinn, sondern immer höheren Gewinn zu machen. Ideologisch abgestützt wird diese Entwicklung durch den Aufstieg des Neoliberalismus zur herrschenden Ideologie: möglichst freie, deregulierte Märkte gelten als Allheilmittel für alle Schwierigkeiten. Sozialstaatliche Sicherungen werden nun ebenso beseitigt wie Regulierungen des internationalen Handels, die „neoliberale Globalisierung“ nimmt ihren Lauf. Angetrieben von den Finanzmärkten entsteht ein weltweit „entfesselter Kapitalismus“: dient es den Gewinnen der Finanzspekulanten werden ganze Währungen (und mit ihnen die jeweiligen Volkswirtschaften) in Krisen gestürzt, „unfaire“ Weltmarktpreise erhöhen die Profite multinationaler Konzerne und führen zur Verarmung der „Dritten Welt“, und in einem wahnwitzigen „Standortwettbewerb“ werden in der „Ersten Welt“ sozialstaatliche Leistungen abgebaut und in den Betrieben beständig rationalisiert, so dass sich auch hier die Lebensbedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung zunehmend verschlechtern.

Einen Ausweg versprechen sich die Globalisierungskritiker von einer erneuten „Fesselung“ des Kapitalismus: einer Bändigung der Finanzmärkte (etwa durch die Tobin Steuer) und einer Neuordnung des Weltmarkts, die den Entwicklungsländern „faire“ Preise und Kreditbedingungen einräumen soll. Und natürlich sollen auch die sozialstaatlichen „Errungenschaften“ der „Ersten Welt“ gegen die Angriffe des Kapitals verteidigt werden. Wichtigster Adressat der Forderungen der Globalisierungskritiker sind dabei die einzelnen Staaten und ihre Regierungen. Diese sollen endlich etwas fürs Gemeinwohl tun: nämlich ihre Bevölkerung gegen den „entfesselten Kapitalismus“ schützen.

In diesen Auffassungen, die am deutlichsten von ATTAC (der ursprünglich in Frankreich entstandenen „Vereinigung zur Besteuerung von Finanztransaktionen im Interesse der BürgerInnen“) sowie der vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu gegründeten Gruppe „Raisons d’agir“ (Gründe zu handeln) vertreten werden, ist jedoch sehr vieles außerordentlich problematisch.

 

II.

Zunächst einmal gewinnt die kritisierte „neoliberale Globalisierung“ ihre Konturen vor allem durch die Idealisierung der Vergangenheit des Kapitalismus, genauer gesagt des „golden age“ des Fordismus, das von den späten 50er bis in die frühen 70er Jahre reichte. In dieser Periode blieb der Kapitalismus in Nordamerika und Westeuropa weitgehend krisenfrei, es herrschte annähernd Vollbeschäftigung und sozialstaatliche Sicherungssysteme wurden ausgebaut. Diese Phase dauerte aber gerade einmal 20 Jahre. Sie war auf die kapitalistischen Zentren Westeuropas und Nordamerikas beschränkt und verdankte sich ganz besonderen Bedingungen: so unter anderem einer Produktivkraftentwicklung, die vor allem auf Massenproduktion und Taylorisierung (Zergliederung der Arbeitsprozesse) beruhte und daher mit relativ geringen zusätzliche Kapitalkosten zu hohen Gewinnen führte, außerdem auf dem beschleunigten Wachstum des Welthandels, der vor und während des zweiten Weltkriegs weitgehend zusammengebrochen war. Im Währungssystem von Bretton Woods existierte ein stabiler internationaler Rahmen der Kapitalbewegungen. Die Stabilität dieses Rahmens gründete nicht zuletzt in einer nicht nur ökonomischen, sondern insbesondere auch monetären Hegemonie der USA. In den 70er Jahren waren die Potenziale des Fordismus aber weitgehend erschöpft: Produktivkraftsteigerungen wurden immer teurer, der entfaltete Welthandel hatte nicht mehr die früheren Steigerungsraten und aus dem Erfolg der fordistischen Entwicklung resultierte schließlich auch eine Unterminierung der monetären Hegemonie der USA, so dass sich das Bretton Woods System nicht mehr aufrecht erhalten ließ. Das „Wirtschaftswunder“ der 50er und 60er Jahre läutete keine neue Epoche eines Kapitalismus ohne Krisen und Arbeitslosigkeit ein, es war vielmehr eine an besondere Bedingungen gebundene historische Ausnahmephase, das mit dem Ende dieser besonderen Konstellation auch selbst ans Ende kam: auf das Wirtschaftswunder folgten die Wirtschaftskrisen der 70er und 80er Jahre.

Von vielen Globalisierungskritikern wird diese Ausnahmephase der 60er Jahre anscheinend für den im 20. Jahrhundert erreichten Normalzustand kapitalistischer Entwicklung gehalten. Denn nur dann lässt sich von der gegenwärtigen Periode als einem neuen „Raubtierkapitalismus“ (Helmut Schmidt in der Zeit) oder einem „Manchesterkapitalismus auf globalem Niveau... unreguliert und destruktiv“ sprechen (so Peter Wahl in der ATTAC-Beilage zur taz vom 29.6.). Wenn außerdem noch beklagt wird, „Konzerne und Kapitalanleger“ würden sich „vor ihrer sozialen Verantwortung“ drücken, indem sie ihre Gewinne in Steueroasen verschieben (Christoph Bautz ebenfalls in der ATTAC-Beilage) wird der Kapitalismus anscheinend für eine soziale Einrichtung gehalten, die nur durch die zunehmende Habgier der Einzelnen ihre (gegenwärtig) unsoziale Gestalt erhält. Es ist zwar banal darauf hinzuweisen, zuweilen aber wohl notwendig: der einzige Zweck kapitalistischer Produktion ist es Gewinn zu machen, und zwar nicht weil die einzelnen Unternehmer so besonders habgierig sind, sondern weil die Konkurrenz dies erzwingt. Ohne ausreichende Gewinne kann nicht investiert und modernisiert werden, die Folge wäre der Bankrott der Firma. „Soziale Verantwortung“ des Unternehmers ist in diesem System nicht vorgesehen.

Was nun seit den 80er Jahren auf die Ausnahmephase „Wirtschaftwunder“ folgte, ist allerdings keine einfache Rückkehr in die früheren Zeiten. Vor allem die Herausbildung eines weitgehend internationalisierten Finanzsystems ist tatsächlich etwas historisch Neues - nicht neu ist aber, dass das Finanzysstem als „bewußtlose“ Steuerungszentrale der Kapitalakkumulation fungiert. Hier sind wir an einem weiteren, äußerst problematischen Punkt der Analyse der Globalisierungskritiker. Ihre oft schematisch-starre Gegenüberstellung von spekulativen Finanzmärkten, die für alles Schlechte verantwortlich sein sollen, und produktivem Kapital, das nützliche Waren produziert und Arbeitsplätze bietet, verkennt, dass Spekulation und Produktion im Kapitalismus immer schon zusammengehören. Kapitalistische Produktion funktioniert seit jeher mit den verschiedenen Formen des Kredits und des Aktienkapitals. Die Finanzmärkte ermöglichen den Unternehmen ihre Akkumulation von den Schranken des in der Vorperiode erzielten Profits zu befreien und nur dadurch ist die beschleunigte Entwicklung der Produktivkräfte und die enorme Flexibilität - Eigenschaften, die den Kapitalismus von allen früheren Produktionsweisen unterscheidet - überhaupt möglich. Kredit wird aber nur in den Bereichen vergeben (und Aktien nur dort gezeichnet), wo besonders hohe Profite erwartet werden. Spekulation auf zukünftige Entwicklungen steuert also immer schon die Kapitalflüsse. Und damit der Zufluß von Kapital nicht abreißt, sind die Unternehmen gezwungen, diese hohen Profite auch zu erzielen. Die Finanzmärkte treiben die Unternehmen stets von neuem dazu an, ihre Profitabilität zu steigern.

In den letzten Jahrzehnten hat sich nun keineswegs die Funktion der Finanzmärkte grundlegend geändert, was sich geändert hat, ist zum einen ihre Internationalisierung und zum anderen die Zunahme von „Finanzderivaten“ d.h. eine Vervielfältigung spekulativer Finanzanlagen. Die Spekulation hat heute noch umfassendere und „schnellere“ Möglichkeiten als früher – sie selbst ist aber nicht neu. Geändert hat sich vor allem die Reichweite der Finanzmärkte: Die internationalisierten Finanzmärkte setzen auch für die Kapitalverwertung zunehmend internationale Standards, denen zumindest die großen, immer häufiger aber auch die mittleren Unternehmen genügen müssen. Damit ihnen dies gelingt, müssen sie sich in „Global Players“ verwandeln, was häufig nur durch Fusionen oder Unternehmensübernahmen zu erreichen ist, auf die dann eine Rationalisierungs- und Entlassungswelle folgt. Was wir hier erleben, ist kein völlig neuer „entfesselter“ oder irgendwie „pervertierter“ Kapitalismus, vielmehr ist ein globaler Konkurrenzkapitalismus im Entstehen, der die immer schon zerstörerische, weil lediglich an der Verwertung des Werts ausgerichtete Logik des Kapitals durchsetzt - jetzt allerdings auf einem globalen Niveau.

 

III.

Die Zähmung des „Raubtierkapitalismus“ erwarten sich die Globalisierungskritiker vom Staat. Dieser soll den „entfesselten“ Kapitalismus „regulieren“: mittels Tobin-Steuer soll die kurzfristige Spekulation an den Finanzmärkten eingedämmt werden, aber auch weitergehende Maßnahmen wie Kapitalverkehrskontrollen werden angestrebt, um Kapitalbewegungen zu „entschleunigen“. Steueroasen und Steuerschlupflöcher sollen geschlossen werden, damit endlich eine „faire Besteuerung von Kapital“ möglich wird (so z.B. Christoph Bautz in der oben zitierten ATTAC-Beilage der taz). Man kann sich nun darüber streiten, inwieweit mit den vorgeschlagenen Maßnahmen die angestrebten Ziele tatsächlich erreicht werden können und ob die Erreichung dieser Ziele (z.B. die Entschleunigung der Finanzmärkte) dann tatsächlich die erwarteten positiven Auswirkungen hätte; in beiden Punkten kann man mit guten Gründen recht skeptisch sein. Im folgenden soll es aber nicht um solche Probleme gehen, sondern um die grundsätzlichere Frage nach dem Verhältnis zu Staat und Politik.

Die Globalisierungskritiker erwarten sich vom Staat nichts geringeres als den Schutz der Bürger vor den zerstörerischen Auswirkungen kapitalistischer Entwicklung. Dabei wird unterstellt, der Staat solle als Hüter des „Gemeinwohls“ auftreten, tue dies aber nicht (oder jedenfalls nicht ausreichend). Ein Teil der globalisierungskritischen Bewegung versucht nun, vor allem durch Überzeugungsarbeit und mit Hilfe von Experten und Expertisen die Politiker von der „richtigen“ Politik zu überzeugen. Viele NGOs sehen es bereits als Erfolg, wenn man sie in irgendein Beratungsgremium aufnimmt oder sie zu Expertenanhörungen einlädt. Ihre wohlmeinenden Vorschläge, die sie häufig selbst schon so zurückhaltend wie möglich formuliert haben, nur um „kompromissfähig“ zu sein, werden in der Regel jedoch immer wieder übergangen. Ein anderer Teil der Globalisierungskritiker tritt kämpferischer auf: Politik begreifen sie als ein Feld der Auseinandersetzung, auf dem sich Gruppen mit unterschiedlichen Interessen gegenüberstehen, die innerhalb und außerhalb von Institutionen um die Durchsetzung ihrer Interessen ringen. Diesem Teil der Bewegung ist klar, dass es nicht allein auf die besseren Argumente ankommt, sondern auch auf die Macht, sie durchzusetzen. Dementsprechend fordert ATTAC in ihrer „Erklärung für eine demokratische Kontrolle der Finanzmärkte“ national und international organisierten Druck: „Nur dann wird etablierte Politik die Interessen der Mehrheit der Menschen gegen die Interessen der Wirtschaft vertreten.“

Nun lässt sich nicht abstreiten, dass durch „öffentlichen Druck“ in Gestalt von Protest, Demonstrationen etc. Debatten, das Meinungsklima und auch politische Entscheidungen beeinflusst werden können. Allerdings stößt eine derartige Einflussnahme auch recht schnell an Grenzen, denn Staat und Politik bilden nicht einfach einen sozusagen „neutralen“ Kampfplatz, dieser Kampfplatz ist vielmehr in einer bestimmten Weise formiert: auf diesem Kampfplatz ist eben nicht alles möglich. Unabhängig vom Wollen der Politiker und noch vor allen Kämpfen, Kräfteverhältnissen und Einflussnahmen, stehen Staat und kapitalistische Ökonomie in einem ganz bestimmten strukturellen Wechselverhältnis.

Im Unterschied zu den mittelalterlichen Leibeigenen, die in einem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis zu „ihrem“ Grundherrn standen, der dieses Verhältnis notfalls mittels eigener Gewalt durchsetzte, treten die modernen LohnarbeiterInnen den Kapitalisten als formell freie und gleiche Eigentümer gegenüber. Sie schließen freiwillig einen Vertrag ab, der ihre eigene Ausbeutung zum Gegenstand hat. Es ist nicht die persönliche Gewalt des Kapitalisten, sondern, wie Marx es nannte, „die stumme Gewalt der ökonomischen Verhältnisse“, die sie dazu zwingt. Damit sich diese stumme Gewalt aber auch so richtig entfalten kann, muss die staatliche Gewalt dafür sorgen, dass einmal geschlossene Verträge auch eingehalten werden und dass das Eigentum auch wechselseitig akzeptiert wird. Indem sich der Staat den Eigentümern gegenüber (seien es nun Eigentümer von Produktionsmitteln oder nur von ihrer eigenen Arbeitskraft) ganz neutral verhält, sie als formell Gleiche behandelt und nur verlangt, dass Privateigentum und Vertrag akzeptiert werden, garantiert er das Kapitalverhältnis, ohne dass davon irgendwo explizit die Rede wäre.

Allerdings beschränkt sich das Verhältnis von Staat und kapitalistischer Ökonomie nicht auf die bloße Absicherung der Kapitalverwertung: für das Funktionieren des Staates ist es notwendig, dass die Kapitalverwertung möglichst profitabel vonstatten geht. Denn nur dann sprudeln auch die Steuern (egal ob sie nun in erster Linie von den Lohnabhängigen oder von den Kapitaleignern erhoben werden), die zur Finanzierung von Staatsapparat und Staatsaufgaben notwendig sind. Ist die Kapitalverwertung beeinträchtigt, sinken die Steuereinnahmen und zugleich wachsen die Sozialausgaben. Egal welche Partei an der Regierung ist, ihr erstes Ziel muss stets sein, dass es „unserer Wirtschaft“ gut geht. Und der Wirtschaft geht es nur gut, wenn die Profite hoch sind, nur dann sind Investitionen zu erwarten, die Arbeitsplätze und Steuereinnahmen bringen. Dieser strukturelle Zwang begrenzt sowohl die Einflussmöglichkeiten von „gesellschaftlichem Druck“ als auch von „alternativen“ oder „linken“ Parteien, selbst wenn sie es bis auf die Regierungsbänke schaffen.

Einer solchen Argumentation wird nun gerne entgegengehalten, dass es in bestimmten historischen Phasen sehr wohl der Staat gewesen sei, der seine Bürger vor den allergrößten Zumutungen des Kapitals geschützt habe, etwa durch die staatlich verordnete Begrenzung der täglichen Arbeitszeit im 19. Jahrhundert oder den Ausbau des Sozialstaats mit Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung im 20. Jahrhundert. Dabei wird allerdings übersehen, dass es bei diesen Maßnahmen, obwohl sie die Situation der einzelnen ArbeiterInnen durchaus verbessern, vor allem darum geht, die Existenz der LohnarbeiterInnen als LohnarbeiterInnen zu erhalten: die Verkürzung des überlangen Arbeitstages war notwendig, damit die Arbeitskraft nicht gänzlich zerstört wird; Arbeitslosengeld erhält nur, wer „dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht“ und für die Sozialhilfe, die im Prinzip jedem Bedürftigen zusteht, gilt das „Lohnabstandsgebot“ – der Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft, auf dem das Kapitalverhältnis beruht, soll durch den Sozialstaat gerade nicht gemildert werden. Auch wenn viele sozialstaatliche Maßnahmen nur gegen den Widerstand der einzelnen Kapitalisten durchgesetzt wurden (da sie teilweise erhebliche Kosten mit sich brachten), sind solche Maßnahmen für die Fortexistenz des Kapitalverhältnisses von zentraler Bedeutung: sie sichern die dauerhafte Existenz einer Klasse von LohnarbeiterInnen. Die konkrete Ausformung und der Umfang des Sozialstaats ist mit dieser allgemeinen Funktionsbestimmung allerdings noch nicht festgelegt. Hier spielen dann in der Tat gesellschaftliche Auseinandersetzungen sowie die von der Profitabilität des Kapitals abhängigen größeren oder kleineren Verteilungsspielräume die entscheidenden Rollen.

Welche sozial- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen am besten geeignet sind, um „unsere Wirtschaft“ zu fördern, ist also nicht von vornherein klar. Die Erfordernisse der Kapitalakkumulation ändern sich mit den Bedingungen der Konkurrenz und sie sind auch in den einzelnen Ländern ganz verschieden, so dass es erhebliche nationale Unterschiede der Wirtschafts- und Sozialpolitik gibt. Wie die Kapitalakkumulation am besten gefördert wird, wie die Position des nationalen Kapitals auf dem Weltmarkt verbessert werden kann, muss immer wieder neu herausgefunden werden. Und schließlich muss auch für jede Politik ein gewisser gesellschaftlicher Konsens hergestellt werden. Die Zumutungen, die die einzelnen Gruppen erfahren, müssen einigermaßen „gerecht verteilt“ erscheinen.

Was hierzulande unter „demokratischer Politik“ verstanden wird, die Diskussion in den Medien und den Parlamenten, die Anhörung von Experten, die Stellungnahmen von Interessengruppen etc. ist genau dieser Prozess, zum einen die Inhalte einer Politik zu bestimmen, deren aber Rahmen feststeht und von den Akteuren auch nicht in Frage gestellt wird und ihr zum anderen ein Höchstmaß an Legitimation zu verschaffen – bis hin zur Möglichkeit, die bestehende Regierung abzuwählen, damit eine neue Regierung mit mehr Legitimation und vielleicht auch mit geschickteren Maßnahmen innerhalb desselben Rahmens weiter agieren kann. Bei all diesen Prozessen handelt es sich keineswegs um ein klug ausgedachtes Täuschungsmanöver der Herrschenden, die alle Fäden in der Hand halten und von Anfang an genau wissen, was sie wollen. Es ist vielmehr ein Prozess, in dem Politik überhaupt erst formuliert und durchgesetzt wird. Allerdings ist dies kein tatsächlich offener Prozess, dessen Ausgang lediglich von den „Kräfteverhältnissen“ abhinge, so dass mit ausreichendem „gesellschaftlichem Druck“ dann auch alles mögliche durchgesetzt werden könnte.

Letzteres scheint aber die Illusion des Mainstreams der Globalisierungskritiker zu sein. Und inzwischen sind sie auch im Vorhof der „etablierten Politik“, die sie verändern wollen, angekommen. Nach anfänglicher völliger Ablehnung werden ihre Vorschläge nun allerorten wohlwollend geprüft. Die rot-grüne Parteienlandschaft entdeckt zunehmend, dass hier ein Potenzial entsteht, das sich eines Tages auch in Wählerstimmen umsetzen könnte, und selbst Institutionen wie der IWF zeigen sich durchaus diskussionsbereit. Es ist schon absehbar, dass nun eine längere Debatte über die Tobin-Steuer und ähnliche Maßnahmen beginnt, dass Gutachten in Auftrag gegeben werden (selbstverständlich auch an „kritische“ Gutachter), dass Expertenhearings veranstaltet werden und in vielen Kommissionen und Ausschüssen über die Themen der Globalisierungskritiker diskutiert wird. Hier kann dann leidenschaftlich um die entscheidenden Nebensätze in den Abschlussdokumenten gerungen werden. Ein Teil der Bewegung ist gut beschäftigt und erhält eventuell sogar finanzielle Unterstützung für seine Arbeit. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass einige Anregungen von den Globalisierungskritikern aufgegriffen werden. Denn wie viel Regulation der internationale Kapitalverkehr wirklich benötigt, um nicht seine eigene Profitabilität zu untergraben, ist keine ein für allemal zu klärende Frage. Auch die Emphase, mit der vor allem die von Pierre Bourdieu gegründete Gruppe „raisons d’agir“ für ein soziales Europa streitet, das sie den neoliberalen USA entgegengestellt, enthält euronationalistische Momente, die sich von der EU hervorragend funktionalisieren lassen.

Dass die Kritik, die die Globalisierungsgegner am gegenwärtigen Kapitalismus üben, nicht sehr weit reicht und dass sie sich mit den institutionellen Mechanismen „demokratischer Politik“ gut integrieren lässt, sollte allerdings kein Grund sein, diese Kritik einfach links liegen zu lassen. Ihre relativ weite Verbreitung ist ein Indiz für ein wachsendes Unbehagen. Die Versprechungen, die Anfang der 90er Jahre auch viele ehemalige Linke mit Markt und Zivilgesellschaft verbunden hatten, lösten sich in den Krisen und Kriegen, die folgten, weitgehend auf. Die Vorstellung der Globalisierungsgegner von einem sozialen Kapitalismus, wie auch ein Nationalismus in neuen Formen (vielleicht bis hin zum Kampf der „zivilisierten Welt“ gegen die „Barbaren“, der nach den Anschlägen von New York und Washington ausgerufen wurde), stehen bereit, dieses Vakuum zu füllen. Die Linke sollte sich jedenfalls mit dem, was sie an Kapitalismus- und Staatskritik aufzubieten hat, in diesen Prozess einmischen.