jungle world 1/2 , 24. Dezember 2002

Hinterzimmer mit Aussicht

Wie entwickelt sich die Europäische Union? Was bringt die Ost-Erweiterung für die neuen Mitglieder? Und welche Rolle spielen einige Globalisierungskritiker? von michael heinrich


Neue Grenzen

Die griechische Regierung will im neuen Jahr die illegale Einwanderung zum Schwerpunkt ihrer EU-Präsidentschaft machen. Sie tritt für eine strengere Überwachung der neuen EU-Außengrenzen ein und will mit Hilfe von bilateralen Abkommen die Flüchtlinge schneller in ihre Herkunftsländer abschieben.

Die politische Landkarte Europas erfährt mit der bereits erfolgten und weiter geplanten Ausdehnung der Nato sowie der gerade beschlossenen Ost-Erweiterung der EU die bedeutendsten Veränderungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Der Gegensatz zwischen dem Osten und dem Westen, der diese Landkarte nach 1945 dominierte, war zwar schon mit der Kündigung des Warschauer Vertrages und dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschwunden. In den neunziger Jahren aber befanden sich die Reste des ehemaligen sowjetischen Einflussgebietes noch in einem wenig stabilen Übergangszustand. In den einstigen Satellitenstaaten der UdSSR wurden nun fleißig der Kapitalismus und die parlamentarische Demokratie nach westlichem Muster eingeführt. So richtig zum Westen gehörten die osteuropäischen Staaten jedoch nicht.

Obwohl es die Mehrheit der Bevölkerung und die neu konstituierte politische Klasse nach Westen drängte, blieben die Nato und die EU bis zum Ende der neunziger Jahre mit ihrer formellen Ausweitung vorsichtig. Nicht nur, weil die Transformation vom früheren Staatssozialismus zum Kapitalismus noch erhebliche Probleme mit sich brachte. Auch auf Russland - keine Supermacht mehr, aber immerhin noch eine Mittelmacht - nahm man dabei Rücksicht. Beide Gründe sind nun entfallen. Die Transformation zu einem Kapitalismus nach westlichem Vorbild ist weitgehend abgeschlossen. Und Russland ist bereit, sich weltpolitisch den westlichen Interessen zu fügen, sofern seine regionale Hegemonie und die kriegerischen Maßnahmen zu deren Durchsetzung, wie etwa in Tschetschenien, nicht in Frage gestellt werden.

Mit der gerade beschlossenen Aufnahme von acht osteuropäischen Staaten sowie der für das Jahr 2007 geplanten Aufnahme von Bulgarien und Rumänien gehören nun alle europäischen Satellitenstaaten der ehemalige UdSSR und sogar drei frühere Sowjetrepubliken zur EU. Die ehemals »neutralen« Länder wie Schweden, Finnland und Österreich wurden schon in den neunziger Jahren in die EU aufgenommen. In Europa gibt es jetzt keine antagonistischen Bündnissysteme mehr, es gibt nur noch den »Westen« in Gestalt der EU und der Nato. Daneben gibt es lediglich einige Länder, die außerhalb stehen. Die Nachkriegsordnung ist endgültig liquidiert.


Vom Vorhof zum Hinterhof

Die Mehrheit der osteuropäischen Bevölkerung unterstützt die Westorientierung ihrer Regierungen. Von der Aufnahme in die EU erwartet sie stabile politische und ökonomische Verhältnisse, eine internationale Aufwertung und vor allem eine Steigerung des persönlichen Wohlstands. Nach den Jahrzehnten sowjetischer Vorherrschaft gilt der Beitritt zur EU als »Rückkehr nach Europa«. Man will von der »Zweiten« in die »Erste« Welt aufsteigen.

Ursprünglich bestand die EU nur aus Frankreich, Deutschland, Italien sowie den Benelux-Staaten und kombinierte deren unterschiedliche Interessen. Der deutschen Industrie sollte ein größerer Absatzmarkt eröffnet werden, die französische sowie in geringerem Maße die deutsche Landwirtschaft sollten gegen die Weltmarktkonkurrenz geschützt und Italien sollte eine nachholende Entwicklung ermöglicht werden. Da die wirtschaftliche Leistungskraft der beteiligten Länder nicht allzu weit auseinander lag und darüber hinaus die Weltwirtschaft prosperierte, konnten alle Beteiligten ihre Ziele erreichen, was den Mythos der EU als Wohlstandsmaschine begründete.

In verschiedenen Erweiterungsrunden nahm die Union zunächst nur relativ starke Volkswirtschaften auf. Erst mit der Süd-Erweiterung in den achtziger Jahren (Griechenland, Spanien, Portugal) kamen Länder hinzu, die wirtschaftlich wesentlich schwächer waren als der Durchschnitt der EU. Allerdings wurde auch diese Erweiterung zu einer Erfolgsstory.

Mit Hilfe beträchtlicher EU-Mittel gelang es, in den neuen Mitgliedsländern eine Kapitalakkumulation zu initiieren, die auch den Lebensstandard der dortigen Bevölkerung in die Richtung des EU-Durchschnitts bewegte. So wurden zugleich günstige Absatz- und Investitionsmöglichkeiten für das Kapital aus den alten Mitgliedsstaaten geschaffen, sodass sich deren Transferzahlungen durchaus rentierten.

Dass den neuen osteuropäischen Mitgliedern ein ähnlicher Erfolg beschieden sein wird, ist jedoch nicht anzunehmen. Die wirtschaftliche Leistungskraft der neuen osteuropäischen Mitglieder hat zum bisherigen EU-Durchschnitt einen erheblich größeren Abstand als es vor 20 Jahren bei den südeuropäischen Ländern der Fall war. Die zehn neuen Mitglieder bringen zwar 75 Millionen neue Bürger in die Union, sodass sich deren Bevölkerungszahl um rund 20 Prozent erhöht. Der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts (BIP) beträgt aber nur vier Prozent. Anders ausgedrückt, macht das gesamte BIP der zehn neuen Mitglieder nur etwa zwei Drittel des BIP Spaniens aus.

Gleichzeitig wird die EU, deren Mitglieder sich zur Haushaltskonsolidierung verpflichtet haben, für die Integration der neuen Mitglieder erheblich weniger Mittel aufwenden als bei der Süd-Erweiterung. Auch bei den Agrarhilfen, dem mit weitem Abstand größten Ausgabenposten des EU-Haushalts, werden die neuen Mitglieder auf Jahre hinweg schlechter abschneiden als die alten.

Selbst die stets optimistische EU-Kommission rechnet mit einer Angleichung der Lebensverhältnisse erst in zwei Jahrzehnten, aber nicht einmal das dürfte realistisch sein. Stärker als jemals zuvor wird sich die EU in wirtschaftlich unterschiedlich entwickelte Regionen differenzieren, wobei Osteuropa die Rolle des auf lange Zeit unterentwickelten Hinterhofes zukommen wird.

Das dürfte auch den Regierungen in Budapest, Tallinn und Warschau klar sein, die sich so sehr um eine EU-Mitgliedschaft bemühten. Ein Hinterhof innerhalb der EU zu werden, erscheint ihnen immer noch besser, als ein Vorhof außerhalb der EU zu bleiben. Angesichts der übertriebenen Erwartungen, die in großen Teilen der Bevölkerung der neuen Mitgliedsländer bestehen, werden Enttäuschungen kaum ausbleiben, was wieder den Nährboden für nationalistische und rassistische Tendenzen bilden dürfte.


Zentrum und Peripherie

Für die alten Mitgliedsländer der EU werden die Auswirkungen der Erweiterung zunächst begrenzt bleiben. Denn schon die gesamten neunziger Jahre über diente Osteuropa vor allem dem deutschen Kapital als Absatzmarkt für Waren sowie als Gebiet für Direktinvestitionen, bei denen die niedrigen Lohnkosten ausgenutzt wurden. Mit der Ost-Erweiterung werden sich diese Verhältnisse nicht grundlegend ändern, sondern stabilisieren. Die osteuropäischen Ökonomien werden in einer untergeordneten Position in eine vor allem von westlichen Konzernen organisierte Arbeitsteilung eingebunden werden.

Die neuen Mitglieder müssen nicht nur den acquis communautaire, das gemeinsame Regelwerk der EU, übernehmen. Sie müssen sich auch an eine Vielzahl scheinbar neutraler technischer Standards anpassen, die schon längst vom transnationalen europäischen Kapital gesetzt und benutzt werden und die ihm etwa im Telekommunikationssektor auch Konkurrenzvorteile versprechen.

Allerdings erfährt die alte EU nicht nur eine Erweiterung, sondern seit Jahren auch eine fortschreitende »Vertiefung« ihres ökonomischen und politischen Zusammenhangs. Wichtige Etappen waren hier die Etablierung des Binnenmarkts und die Einführung des Euro.

Dieser Vertiefungsprozess, der der internationalen Konkurrenzfähigkeit des europäischen Kapitals dienen soll, wird durch den seit den achtziger Jahren herrschenden Neoliberalismus strukturiert, der allerorten auf Deregulierung und Flexibilisierung setzte.

Allerdings blieb dieser kontinentaleuropäische Neoliberalismus im Vergleich zum amerikanischen oder britischen in den meisten EU-Staaten teilweise korporativ gebunden, was vor allem auf die starke Position der Gewerkschaften zurückzuführen ist.

Von den Beitrittsländern wird nun im Zuge des Erweiterungsprozesses eine viel radikalere Form neoliberaler Deregulierung und Flexibilisierung verlangt, sodass man prognostizieren kann, dass sich die »Fortschritte« der neuen Mitglieder bald auf die alten auswirken werden, deren »verkrustete Strukturen« schon lange der Gegenstand marktradikaler Kritik sind.

Ein wichtiges Element dieses Vertiefungsprozesses besteht auch darin, eine Reihe einst nationalstaatlicher Kompetenzen an suprastaatliche Einrichtungen der EU zu übertragen. Dieser Prozess lässt manche schon einen europäischen Bundesstaat erhoffen oder befürchten. Zwar ist ein solcher Bundesstaat noch auf längere Sicht nicht zu erwarten, dafür sind die Interessenunterschiede der einzelnen Länder noch zu groß.

Doch wird sich die »Staatlichkeit« erheblich verändern. Bereits jetzt bildet sich ein »Kerneuropa« heraus, das immer stärker durch gemeinsame Institutionen wie etwa den Euro und eine gemeinsame Politik verbunden ist, während die übrigen EU-Mitglieder einen mehr oder weniger mit diesem Kern verbundenen Rand darstellen.

Die Reform der EU-Institutionen dürfte diesen Trend zu einem Kerneuropa weiter beschleunigen. Bei 25 Mitgliedsstaaten können die Gremien schon aus pragmatischen Gründen kaum nach dem Konsensprinzip organisiert werden. An die Stelle einstimmiger Entscheidungen werden Mehrheitsvoten treten, bei denen die großen Länder ein entsprechend größeres Gewicht bekommen werden.


Transatlantische Konkurrenz

Die neue EU will nicht nur eine ökonomische Regulation der Kapitalakkumulation bewerkstelligen, sondern auf internationaler Bühne auch größeren politischen Einfluss ausüben. Mit der geplanten schnellen EU-Eingreiftruppe, die nicht mehr der Landesverteidigung, sondern der weltweiten Intervention dient, sowie den auf eine bessere Transport- und Kommunikationskapazität zielenden Beschaffungsprogrammen soll dieser Anspruch militärisch untermauert werden. Politisch und ökonomisch dürfte sich damit die Konkurrenz der EU vor allem zu den USA weiter verschärfen.

Von der Bevölkerungszahl her übertrifft die EU bereits jetzt die USA. Wirtschaftlich und teilweise auch technologisch hinkt die EU allerdings bisweilen noch hinterher. Das Bruttoinlandsprodukt der EU beträgt nur etwa 85 Prozent desjenigen der USA. Die größte Lücke klafft aber auf militärischem Gebiet, und sie ist auch nicht in kurzer Zeit zu schließen. Bisher war die EU auch nicht sonderlich daran interessiert, sparte man so doch Milliarden an Rüstungsausgaben. Will die EU aber zu einem weltpolitischen Machtfaktor werden, dann wird sie auch eine weltweit einsatzfähige Truppe aufbauen müssen.

Auch die USA sehen diese größer werdende Konkurrenz zur EU. So dürfte sich ihr Drängen auf den Aufbau einer Nato-Interventionstruppe vor allem als Antwort auf die geplante EU-Eingreiftruppe verstehen. Mit Hilfe der Nato soll die militärische Hegemonie Washingtons auch gegenüber den militärischen Bestrebungen der EU aufrechterhalten werden. Dabei wünschen die USA durchaus verstärkte Rüstungsanstrengungen der EU-Staaten, solange diese ihrer eigenen Entlastung dienen und sich der US-amerikanischen Hegemonie fügen.

Auch das starke Engagement der USA für eine Aufnahme der Türkei in die EU dürfte nicht nur ihrem Interesse an der politischen und ökonomischen Stabilisierung dieses strategisch wichtigen Landes geschuldet sein. Vermittelt über das in der Türkei politisch einflussreiche Militär hätten die USA einen treuen Bündnispartner in der EU gewonnen. Und genau das mag, neben der Angst vor Instabilität und Migration, auch einer der Gründe dafür sein, dass eine baldigen Aufnahme der Türkei in die Union von der Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten abgelehnt wird.


Außerparlamentarische Reserven

Teile der globalisierungskritischen Bewegung erwarten viel von der sich neu formierenden Europäischen Union. Gegenüber den »neoliberalen« USA verweist man auf die sozialstaatlichen Traditionen Europas, gegenüber einem aggressiven US-amerikanischen Imperialismus plädiert man für eine auf Ausgleich bedachte europäische Friedenspolitik.

Diesem allzu positiven Bild der EU lässt sich entgegenhalten, dass auch die EU kapitalistisch organisiert ist. So liegt der Zweck des Sozialstaates nicht darin, das angenehme Leben zu ermöglichen. Er ist keine Sicherung der Menschen, sondern der Arbeitskraft, die dem Kapital auch nach einer Krankheit oder der Arbeitslosigkeit wieder in alter Frische zur Verfügung stehen soll. Umstritten ist die Frage, wie viel Sozialstaat nötig ist und was die Sicherung der Arbeitskraft kosten darf. In diesen immer wieder aufbrechenden Konflikten dürften spezifisch europäische Traditionen aber keine allzu große Rolle spielen.

Ähnlich problematisch verhält es sich mit der besonderen Friedensliebe, die den europäischen Staaten in Abgrenzung zum US-amerikanischen Imperialismus attestiert wird. Denn wo für die EU militärische Lösungen möglich sind, machte sie in der Vergangenheit durchaus davon Gebrauch, was nicht zuletzt der Kosovokrieg zeigte. Nur ist die EU nicht in der hegemonialen Position wie die USA. Die Idee, EU-Interessen notfalls mit militärischer Gewalt durchzusetzen, ist in vielen Fällen schlicht unrealistisch, weswegen gerne über friedliche Lösungen debattiert wird. Ändern sich die Voraussetzungen, wird auch von der Friedensliebe nicht mehr viel übrig bleiben.

Die neue EU-Staatlichkeit und ihre weltpolitischen Ambitionen bedürfen allerdings der Legitimation gegenüber der eigenen Bevölkerung. Und dabei kann eine Protestbewegung, die von der EU vor allem Gutes erwartet, durchaus hilfreich sein.