phase 2.07, Frühjahr 2003, Interview
Heinrich: Zunächst mal habe ich nicht davon gesprochen, dass die
Imperialismustheorie „nicht mehr“ zeitgemäß sei, so als ob sie früher mal
gestimmt hätte und nur heute nicht mehr richtig sei. Ich habe vielmehr versucht
deutlich zu machen, dass die Imperialismustheorie noch nie besonders zutreffend
war. Dabei muss man allerdings den theoretischen Ansatz Lenins und anderer von
der weit verbreiteten Etikettierung der Tatsache, dass Staaten ihren
Einflussbereich vergrößern wollen, unterscheiden. Bezeichnet man allein diesen
Sachverhalt als „imperialistisch“ habe ich noch nichts gewonnen außer einem
Wort. Lenin bemühte sich immerhin um eine Erklärung: der Kapitalismus sei in
eine neue Phase getreten, denn Monopolkapitalismus, Monopole und Finanzkapital
beherrschen die Wirtschaft, und weil deren Profitproduktion im Inland an
Grenzen stoße, müsse ihnen der Staat neue Absatz- und Anlagesphären im Ausland
sichern. Diese Theorie beruht aber auf einer schiefen Kapitalismusanalyse und
fällt weit hinter Marx zurück. Lenins wichtigste theoretische Quelle für seine
Imperialismustheorie war auch nicht Marx, sondern der linksliberale Autor John
A. Hobson. Statt der Vergesellschaftung über den Wert und den Warenfetisch, dem
alle Mitglieder der Gesellschaft unterliegen, sollen nun die „Monopolherren“
Wirtschaft und Gesellschaft direkt beherrschen und den Staat zum ausführenden
Organ ihrer Interessendurchsetzung machen. Das ist nicht nur eine schiefe
Kapitalismusanalyse, sondern auch eine schiefe Staatstheorie, da die zentrale
Aufgabe des Staates gerade in der Durchsetzung (und Legitimierung!) nicht des
einzelkapitalistischen sondern des gesamtkapitalistischen Interesses besteht.
Dieses gesamtkapitalistische Interesse muss aber überhaupt erst ermittelt
werden, es ist nicht einfach da. „Demokratie“ und „Öffentlichkeit“ sind nun
genau die Instanzen, mit denen dieses Interesse ermittelt, durchgesetzt und
gegenüber den subalternen Klassen legitimiert wird.
Heinrich: Wenn die USA tatsächlich Krieg gegen den Irak führen und eine
ihnen genehme Regierung installieren, dann werden mit Sicherheit amerikanische
Ölfirmen dort auch eine Reihe lukrativer Geschäfte machen. Nur: Dass diese
Firmen später einmal von diesem Krieg profitieren werden, ist noch kein
überzeugendes Argument dafür, dass dieser Krieg vor allem wegen dieser Profite
geplant wird. Tatsächlich sind die erwarteten Kriegskosten um ein Vielfaches
höher als die möglicherweise realisierten Profite. Selbst bei einem kurzen
Krieg werden die unmittelbaren Kosten mit ca. 40 Mrd. Dollar veranschlagt,
einschließlich der Folgekosten geht man über einen Zeitraum von zehn Jahren von
mindestens 100 Mrd. Dollar aus - dies ist allerdings die „optimistische“
Variante. Auf der anderen Seite exportiert der Irak im Moment nur Öl im
Gesamtwert von ca. 13 Mrd. Dollar, und um diese Menge zu steigern, sind erst
noch erhebliche Investitionen nötig.
Heinrich: Dass die Bedingungen, unter denen Nationalstaaten agieren in
den letzten 20, 30 Jahren erhebliche Veränderungen erfahren haben, ist ganz
offensichtlich. Und da die Nationalstaaten heute über bestimmte, vor allem
wirtschaftspolitische Möglichkeiten, etwa bei der Regulierung des inländischen
Zinsniveaus oder des Wechselkurses ihrer Währung, nicht mehr in der gleichen
Weise verfügen wie früher, wird häufig von einem Souveränitäts- und
Bedeutungsverlust der Nationalstaaten gesprochen. So auch Hardt und Negri in
„Empire“: Sie erklären die klassische Imperialismustheorie ja nicht deshalb für
überholt, weil sie irgendeine inhaltliche Kritik an ihr hatten, sondern weil
sie glauben, dass die Nationalstaaten heute bereits so weit an Bedeutung
verloren haben, dass eine „imperialistische“ Politik einfach nicht mehr möglich
sei. Stattdessen soll ein umfassendes „Empire“ existieren, das kein Außen mehr
kennt, in dem die Macht überall und nirgends existiert und Kriege eher den Charakter
von Polizeieinsätzen zur Durchsetzung einer universellen Rechtsordnung hätten.
Mir scheint, da wurde eine schiefe Theorie nur durch eine andere, genauso
schiefe Theorie ersetzt. Nach wie vor spielen einige, längst nicht alle
Nationalstaaten eine entscheidende Rolle. Die Internationalisierung der
Finanzmärkte, wie auch der Wertschöpfungsketten des produzierenden Kapitals
führen aber dazu, dass die Nationalstaaten auf ganz unterschiedlichen Ebenen
miteinander zu tun haben. Um Handel, Investitionen, Kapitalverkehr, den
Transfer der Profite etc. zu gewährleisten, müssen eine Vielzahl von
internationalen Regelungen getroffen werden, die keineswegs nur technischen
Charakter haben, sondern immer auch bestimmte Interessen begünstigen oder
hemmen. Insofern stehen die Staaten teils direkt, teils vermittelt über
internationale Organisationen in einem Verhältnis von gleichzeitiger Konkurrenz
und Kooperation. Je nach Problemfeld kann es dabei ganz unterschiedliche
Interessen- und Bündniskonstellationen geben, wobei auch die einzelnen
Nationalstaaten keineswegs einheitlich auftreten. Ein „gesamtimperialistisches“
Interesse, ich würde eher von einem globalen gesamtkapitalistischen Interesse
sprechen, existiert nur insoweit, als alle Länder an einer möglichst reibungslosen
Kapitalakkumulation ein Interesse haben. Wie dies dann aber im Einzelnen
aussehen soll, da gehen die Interessen erheblich auseinander, so dass es eben
immer Kooperation und Konkurrenz der Staaten gibt.
Heinrich: Für die USA geht es offensichtlich zunächst einmal um eine
verstärkte Kontrolle der gesamten Region. Von den drei großen Ölstaaten des
Mittleren Ostens kann sich die USA nur auf Saudi-Arabien stützen und hier
wurden die Bande in letzter Zeit immer brüchiger. Könnten die USA im Irak eine
„freundliche“ Regierung installieren, dann wäre nicht nur ihre Abhängigkeit von
Saudi-Arabien geringer, es könnte dann auch der Druck auf den dritten wichtigen
Ölstaat, den Iran, der von Bush ja auch schon zur „Achse des Bösen“ gezählt
wurde, enorm gesteigert werden; der östliche Nachbar des Iran, Afghanistan,
wurde ja schon vereinnahmt. Bei der angestrebten Kontrolle des Mittleren Ostens
geht es für die USA aber nicht nur um eine Sicherung der eigenen Ölversorgung,
zugleich würden auch alle wichtigen Konkurrenten, die großen EU-Staaten
Frankreich und Deutschland, Russland sowie China in ihre Schranken verwiesen.
Die Region zwischen dem Persischen Golf und Zentralasien ist nicht nur enorm
rohstoffreich, sondern auch politisch äußerst instabil. Nach dem
Afghanistankrieg hat die USA bereits großen Einfluss in den ehemaligen
zentralasiatischen Sowjetrepubliken. Zusammengenommen mit einer Kontrolle des
Irak und eventuell auch des Iran würde dies bedeuten, dass die USA auf die
künftige Entwicklung dieser Region einen entscheidenden Einfluss haben werden:
nicht um den eigenen Konzernen unmittelbar zu höheren Profiten zu verhelfen,
das wird auch geschehen, ist aber zweitrangig, sondern um über die Regeln zu
entscheiden, nach denen mit dieser Region und ihren Rohstoffen zukünftig
umgegangen wird. Regeln, an denen sich dann auch alle konkurrierenden Staaten
orientieren müssten: Wer zu welchen Bedingungen Zugang zu den Ressourcen hat,
wie hoch der Ölpreis ist und nicht zuletzt, in welcher Währung das Öl
abgerechnet wird, was in der Währungskonkurrenz mitentscheidend dafür ist,
welche Währung zum Weltgeld wird. Machtpolitischen Konkurrenzunternehmungen,
egal ob sie aus der EU, Russland oder China kommen, wäre so schon präventiv
entgegen getreten. Den möglichen Konkurrenten bleibt nur noch, wie sich das
bereits jetzt in der UNO andeutet, das Mitspielen zu US-amerikanischen
Bedingungen. Andererseits sollte für die Linke aber auch deutlich werden, dass
die momentane Friedensbegeisterung einiger EU-Länder, allen voran Deutschland
und Frankreich weniger mit einer (im Vergleich zur USA) friedlicheren
Politikorientierung zu tun hat (siehe Kosovo), als vielmehr mit anderen
Interessen und eingeschränkteren Möglichkeiten, diese Interessen durchzusetzen.