phase 2.07, Frühjahr 2003, Interview

 

In einem Artikel in der Wochenzeitung Jungle World und jetzt wieder bei der Diskussionsveranstaltung über Krieg und Imperialismus in Berlin hast Du Lenins Imperialismustheorie, nach der sich die imperialistischen Mächte einen Kampf um die Neuaufteilung der Welt liefern, um Absatz- und Anlagesphären für ihre jeweiligen Konzerne zu schaffen, als nicht mehr zeitgemäß bezeichnet. Ist es aber nicht doch so, dass ökonomische Interessen nach wie vor ausschlaggebend für die Kriege der neunziger Jahre und auch für den bevor stehenden Krieg gegen den Irak sind?

Heinrich: Zunächst mal habe ich nicht davon gesprochen, dass die Imperialismustheorie „nicht mehr“ zeitgemäß sei, so als ob sie früher mal gestimmt hätte und nur heute nicht mehr richtig sei. Ich habe vielmehr versucht deutlich zu machen, dass die Imperialismustheorie noch nie besonders zutreffend war. Dabei muss man allerdings den theoretischen Ansatz Lenins und anderer von der weit verbreiteten Etikettierung der Tatsache, dass Staaten ihren Einflussbereich vergrößern wollen, unterscheiden. Bezeichnet man allein diesen Sachverhalt als „imperialistisch“ habe ich noch nichts gewonnen außer einem Wort. Lenin bemühte sich immerhin um eine Erklärung: der Kapitalismus sei in eine neue Phase getreten, denn Monopolkapitalismus, Monopole und Finanzkapital beherrschen die Wirtschaft, und weil deren Profitproduktion im Inland an Grenzen stoße, müsse ihnen der Staat neue Absatz- und Anlagesphären im Ausland sichern. Diese Theorie beruht aber auf einer schiefen Kapitalismusanalyse und fällt weit hinter Marx zurück. Lenins wichtigste theoretische Quelle für seine Imperialismustheorie war auch nicht Marx, sondern der linksliberale Autor John A. Hobson. Statt der Vergesellschaftung über den Wert und den Warenfetisch, dem alle Mitglieder der Gesellschaft unterliegen, sollen nun die „Monopolherren“ Wirtschaft und Gesellschaft direkt beherrschen und den Staat zum ausführenden Organ ihrer Interessendurchsetzung machen. Das ist nicht nur eine schiefe Kapitalismusanalyse, sondern auch eine schiefe Staatstheorie, da die zentrale Aufgabe des Staates gerade in der Durchsetzung (und Legitimierung!) nicht des einzelkapitalistischen sondern des gesamtkapitalistischen Interesses besteht. Dieses gesamtkapitalistische Interesse muss aber überhaupt erst ermittelt werden, es ist nicht einfach da. „Demokratie“ und „Öffentlichkeit“ sind nun genau die Instanzen, mit denen dieses Interesse ermittelt, durchgesetzt und gegenüber den subalternen Klassen legitimiert wird.

Du würdest also nicht die Einschätzung teilen, dass es vor allem die Interessen amerikanischer Konzerne am irakischen Öl sind, die hinter dem Kriegskurs der USA stehen?

Heinrich: Wenn die USA tatsächlich Krieg gegen den Irak führen und eine ihnen genehme Regierung installieren, dann werden mit Sicherheit amerikanische Ölfirmen dort auch eine Reihe lukrativer Geschäfte machen. Nur: Dass diese Firmen später einmal von diesem Krieg profitieren werden, ist noch kein überzeugendes Argument dafür, dass dieser Krieg vor allem wegen dieser Profite geplant wird. Tatsächlich sind die erwarteten Kriegskosten um ein Vielfaches höher als die möglicherweise realisierten Profite. Selbst bei einem kurzen Krieg werden die unmittelbaren Kosten mit ca. 40 Mrd. Dollar veranschlagt, einschließlich der Folgekosten geht man über einen Zeitraum von zehn Jahren von mindestens 100 Mrd. Dollar aus - dies ist allerdings die „optimistische“ Variante. Auf der anderen Seite exportiert der Irak im Moment nur Öl im Gesamtwert von ca. 13 Mrd. Dollar, und um diese Menge zu steigern, sind erst noch erhebliche Investitionen nötig.

Lässt sich der bevorstehende Krieg gegen den Irak denn überhaupt noch in nationalstaatlichen Kategorien verstehen? Innerhalb der linken Debatte ist in den letzten Jahren nicht ohne Plausibilität häufig von der stetig fortschreitenden Transformation nationalstaatlicher Souveränität die Rede gewesen. Vor allem die transnationale Kapitalvernetzung würde auch eine Politik der multilateralen, „gesamtimperialistischen“ Interessensdurchsetzung hervorbringen.

Heinrich: Dass die Bedingungen, unter denen Nationalstaaten agieren in den letzten 20, 30 Jahren erhebliche Veränderungen erfahren haben, ist ganz offensichtlich. Und da die Nationalstaaten heute über bestimmte, vor allem wirtschaftspolitische Möglichkeiten, etwa bei der Regulierung des inländischen Zinsniveaus oder des Wechselkurses ihrer Währung, nicht mehr in der gleichen Weise verfügen wie früher, wird häufig von einem Souveränitäts- und Bedeutungsverlust der Nationalstaaten gesprochen. So auch Hardt und Negri in „Empire“: Sie erklären die klassische Imperialismustheorie ja nicht deshalb für überholt, weil sie irgendeine inhaltliche Kritik an ihr hatten, sondern weil sie glauben, dass die Nationalstaaten heute bereits so weit an Bedeutung verloren haben, dass eine „imperialistische“ Politik einfach nicht mehr möglich sei. Stattdessen soll ein umfassendes „Empire“ existieren, das kein Außen mehr kennt, in dem die Macht überall und nirgends existiert und Kriege eher den Charakter von Polizeieinsätzen zur Durchsetzung einer universellen Rechtsordnung hätten. Mir scheint, da wurde eine schiefe Theorie nur durch eine andere, genauso schiefe Theorie ersetzt. Nach wie vor spielen einige, längst nicht alle Nationalstaaten eine entscheidende Rolle. Die Internationalisierung der Finanzmärkte, wie auch der Wertschöpfungsketten des produzierenden Kapitals führen aber dazu, dass die Nationalstaaten auf ganz unterschiedlichen Ebenen miteinander zu tun haben. Um Handel, Investitionen, Kapitalverkehr, den Transfer der Profite etc. zu gewährleisten, müssen eine Vielzahl von internationalen Regelungen getroffen werden, die keineswegs nur technischen Charakter haben, sondern immer auch bestimmte Interessen begünstigen oder hemmen. Insofern stehen die Staaten teils direkt, teils vermittelt über internationale Organisationen in einem Verhältnis von gleichzeitiger Konkurrenz und Kooperation. Je nach Problemfeld kann es dabei ganz unterschiedliche Interessen- und Bündniskonstellationen geben, wobei auch die einzelnen Nationalstaaten keineswegs einheitlich auftreten. Ein „gesamtimperialistisches“ Interesse, ich würde eher von einem globalen gesamtkapitalistischen Interesse sprechen, existiert nur insoweit, als alle Länder an einer möglichst reibungslosen Kapitalakkumulation ein Interesse haben. Wie dies dann aber im Einzelnen aussehen soll, da gehen die Interessen erheblich auseinander, so dass es eben immer Kooperation und Konkurrenz der Staaten gibt.

Und was heißt das dann für den Aufmarsch gegenüber dem Irak? Um welche Interessen und um welche Ziele geht es hier?

Heinrich: Für die USA geht es offensichtlich zunächst einmal um eine verstärkte Kontrolle der gesamten Region. Von den drei großen Ölstaaten des Mittleren Ostens kann sich die USA nur auf Saudi-Arabien stützen und hier wurden die Bande in letzter Zeit immer brüchiger. Könnten die USA im Irak eine „freundliche“ Regierung installieren, dann wäre nicht nur ihre Abhängigkeit von Saudi-Arabien geringer, es könnte dann auch der Druck auf den dritten wichtigen Ölstaat, den Iran, der von Bush ja auch schon zur „Achse des Bösen“ gezählt wurde, enorm gesteigert werden; der östliche Nachbar des Iran, Afghanistan, wurde ja schon vereinnahmt. Bei der angestrebten Kontrolle des Mittleren Ostens geht es für die USA aber nicht nur um eine Sicherung der eigenen Ölversorgung, zugleich würden auch alle wichtigen Konkurrenten, die großen EU-Staaten Frankreich und Deutschland, Russland sowie China in ihre Schranken verwiesen. Die Region zwischen dem Persischen Golf und Zentralasien ist nicht nur enorm rohstoffreich, sondern auch politisch äußerst instabil. Nach dem Afghanistankrieg hat die USA bereits großen Einfluss in den ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken. Zusammengenommen mit einer Kontrolle des Irak und eventuell auch des Iran würde dies bedeuten, dass die USA auf die künftige Entwicklung dieser Region einen entscheidenden Einfluss haben werden: nicht um den eigenen Konzernen unmittelbar zu höheren Profiten zu verhelfen, das wird auch geschehen, ist aber zweitrangig, sondern um über die Regeln zu entscheiden, nach denen mit dieser Region und ihren Rohstoffen zukünftig umgegangen wird. Regeln, an denen sich dann auch alle konkurrierenden Staaten orientieren müssten: Wer zu welchen Bedingungen Zugang zu den Ressourcen hat, wie hoch der Ölpreis ist und nicht zuletzt, in welcher Währung das Öl abgerechnet wird, was in der Währungskonkurrenz mitentscheidend dafür ist, welche Währung zum Weltgeld wird. Machtpolitischen Konkurrenzunternehmungen, egal ob sie aus der EU, Russland oder China kommen, wäre so schon präventiv entgegen getreten. Den möglichen Konkurrenten bleibt nur noch, wie sich das bereits jetzt in der UNO andeutet, das Mitspielen zu US-amerikanischen Bedingungen. Andererseits sollte für die Linke aber auch deutlich werden, dass die momentane Friedensbegeisterung einiger EU-Länder, allen voran Deutschland und Frankreich weniger mit einer (im Vergleich zur USA) friedlicheren Politikorientierung zu tun hat (siehe Kosovo), als vielmehr mit anderen Interessen und eingeschränkteren Möglichkeiten, diese Interessen durchzusetzen.