Michael Heinrich

Agenda 2010 und Hartz IV
Vom rot-grünen Neoliberalismus zum Protest

in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 136 „Umbrüche des Sozialstaats“
34. Jahrgang, Nr. 3, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, September 2004

 

Seit dem ersten „Haushaltsstrukturgesetz“, mit dem Helmut Schmidts SPD/FDP Koalition auf die Krise von 1974/75 reagierte, gab es in der Bundesrepublik immer wieder Einschnitte ins soziale Netz. Diese stießen jedes Mal auf heftige Kritik von Gewerkschaften, Sozialverbänden und - sofern sie in der Opposition waren - auch von SPD und Grünen. Nicht selten wurde bei mancher graduellen Verschlechterung schon der große qualitative Bruch im westdeutschen Sozialstaat beschworen. Mit der von der rot-grünen Bundesregierung beschlossenen „Agenda 2010“ könnte sich eine solche Einschätzung allerdings als gerechtfertigt erweisen. Umgesetzt wurde bereits die so genannte Gesundheitsreform: während die gut verdienenden Teile des Gesundheitssystems, wie die Pharmaindustrie geschont wurden, müssen Versicherte und Patienten höhere Lasten tragen (Praxisgebühr, erhöhte Zuzahlungen, Ausgliederung des Zahnersatzes ab 2005 und des Krankengeldes ab 2006 aus der gesetzlichen Krankenversicherung), um die Arbeitgeber bei den Lohnnebenkosten zu entlasten. Neben dieser „Gesundheitsreform“ bildet das gerade beschlossene „Hartz IV“ Paket das Kernstück der Agenda 2010. Es stellt nicht nur, wie die FAZ am 30.6.2004 titelte, „Die größte Kürzung von Sozialleistungen seit 1949“ dar, es wird darüber hinaus auch erhebliche Auswirkungen auf Arbeitslose wie auf Beschäftigte haben und vielleicht auch eine einschneidende Veränderung der (partei)politischen Landschaft einleiten.

Dabei folgte Hartz IV von seiner Entstehung her keineswegs einem Masterplan zum grundlegenden Umbau des Sozialstaats. Entstanden ist der Prozess, an dessen Endpunkt jetzt die Hartz IV Gesetze stehen, eher zufällig, aus dem Skandal um geschönte Vermittlungszahlen bei den Arbeitsämtern im Frühjahr 2002. Dieser Skandal führte zur Einsetzung der nach ihrem Vorsitzenden benannten „Hartz-Kommission“, die Vorschläge zur Modernisierung der Arbeitsvermittlung und zum Umbau des Arbeitsamtes machen sollte. Im Wahljahr 2002 stand die rot-grüne Bundesregierung aber auch unter erheblichem Legitimationsdruck: wollte sie sich doch, wie dies Gerhard Schröder beim Regierungsantritt 1998 vollmundig verkündet hatte, an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit messen lassen - und da gab es alles andere als Erfolgsmeldungen. Als die Hartz-Kommission ihren ursprünglichen Auftrag ausweitete und kurz vor dem Wahltermin umfassende Arbeitsmarktreformen vorschlug, wurde dies von der Regierung dankbar aufgenommen: gebetsmühlenartig wurde die „Eins zu Eins Umsetzung“ der Kommissionsvorschläge als ultimative Lösung aller Probleme wiederholt, die nicht „zerredet“ werden dürfte. Bereits damals war Rot-Grün in der Tradition des deutschen Obrigkeitsstaates angekommen: was von oben kommt, haben die unten ohne Diskussion zu schlucken.

Nicht ganz so zufällig wie das Zustandekommen der Hartz-Kommission war der Inhalt ihrer Vorschläge. Entsprechend dem bis weit in Sozialdemokratie und Grüne vorgedrungenen neoliberalen Zeitgeist und den (zumindest kurzfristigen) Interessen der Unternehmer wurde einerseits die Verbilligung der Arbeitskraft angestrebt - gemäß dem Credo der neoklassischen Theorie, dass niedrigere Löhne oder Lohnnebenkosten zu mehr Einstellungen führen würden - und andererseits wurden die Arbeitslosen selbst für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht, da sie zu unflexibel seien, sich zu wenig um einen Job bemühen würden oder nicht bereit wären, zu einem niedrigen Lohn zu arbeiten. Damit hatte man auch gleich die Lösung parat: mehr Druck auf die arbeitslosen Leistungsbezieher. Dass es angesichts der Millionen von Arbeitslosen viel zu wenige freie Stellen gab, wurde dabei geflissentlich ausgeblendet.

Den Unternehmern kam vor allem der Versuch entgegen, die Lohnnebenkosten zu senken. Aufgrund der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit waren die Gewerkschaften bereits erheblich geschwächt und konnten seit Jahren nur relativ geringe Tariferhöhungen durchsetzen. Seit Mitte der 90er Jahre stiegen die Löhne in Deutschland langsamer als in den meisten westeuropäischen Ländern. Zudem wurden die meisten Tarifverträge mit Öffnungsklauseln versehen und in vielen Unternehmen galt nicht mehr der Flächentarif sondern ein zuweilen erheblich schlechterer Haustarif. Der Anstieg der Tariflöhne bildete für die Unternehmen also kein Problem. Der Entwicklung der Lohnnebenkosten war durch die Schwäche der Gewerkschaften aber nicht beizukommen, wurden doch hier von den Sozialversicherungen die Kosten auf die von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu zahlenden Beiträge umgelegt. Daher der dauernde Ruf nach Begrenzung der Lohnnebenkosten, was von Rot-Grün mit Renten- und Gesundheitsreform denn auch angegangen wurde: de facto wurde vom Prinzip der paritätischen Finanzierung der Sozialversicherungen durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber immer weiter abgegangen, indem den Arbeitnehmern durch den Zwang zur „privaten Vorsorge“ zunächst für die Rente und jetzt auch für eine Reihe von Gesundheitsleistungen immer höhere Kostenanteile aufgebürdet wurden. Nebenbei wurden damit attraktive Geschäftsfelder für Banken und Versicherungen geschaffen.

Hartz IV nimmt mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe und den verschärften Zumutbarkeitsregeln sowohl den Kosten- als auch den Verantwortungsdiskurs auf. Allerdings werden die Konsequenzen erheblich einschneidender sein als bei allen vorangegangenen rot-grünen „Reform“vorhaben.

 

Die gewollte Verarmung der Empfänger staatlicher Hilfen

Auch bei langandauernder Arbeitslosigkeit rutschte man bisher nicht automatisch in Armut ab (nach einer gängigen Definition ist ein Haushalt arm, wenn er weniger als 50% des durchschnittlichen Haushaltseinkommens zur Verfügung hat). Je nach Beschäftigungsdauer und Lebensalter wurde bis zu 32 Monate lang Arbeitslosengeld bezahlt, das bei ca. 60% des früheren Netto-Arbeitseinkommens lag und als reine Versicherungsleistung unabhängig vom eigenen Vermögen oder vom Einkommen des Lebenspartners gezahlt wurde. Darauf folgte die Arbeitslosenhilfe, die ebenfalls noch an das frühere Arbeitseinkommen gekoppelt war (wenn auch mit niedrigeren Prozentsätzen) und deren Bewilligung in gewissem Umfang vom eigenen Vermögen und vom Einkommen des Lebenspartners abhing. Der finanzielle Abstieg bei längerer Arbeitslosigkeit war damit einigermaßen abgemildert und zeitlich verzögert. 

Mit Hartz IV ändert sich diese Situation grundlegend: das Arbeitslosengeld wird für Beschäftigte unter 53 Jahren auf maximal 12 Monate begrenzt (wer älter als 53 ist, erhält maximal 18 Monate Arbeitslosengeld) und danach gibt es - unter Umständen - das neue Arbeitslosengeld II, das aus der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe hervorgegangen ist. Allerdings wurde mit dieser Zusammenlegung de facto die Arbeitslosenhilfe abgeschafft: die Höhe des Arbeitslosengeld II hängt nicht mehr vom früheren Arbeitseinkommen ab, sondern wurde auf Sozialhilfeniveau gesenkt (d.h. Kosten für „angemessenen“ Wohnraum plus 345 Euro in West- und 331 Euro in Ostdeutschland). Für die Anrechnung von Vermögen und Partnereinkommen gelten die erheblich schärferen Regelungen der Sozialhilfe. (Für bisherige Sozialhilfeempfänger gibt es an einigen Punkten Verbesserungen, aber auch einige Verschlechterungen).

Konkret bedeutet dies für einen z.B. 52jährigen Arbeitnehmer, der vielleicht 30 oder mehr Jahre gearbeitet und Sozialversicherungsbeiträge gezahlt hat, dass er bei Arbeitslosigkeit gerade mal 12 Monate Arbeitslosengeld erhält, danach gezwungen ist, sein Vermögen bis auf relativ geringe Freibeträge (die vor allem der Altersvorsorge dienen sollen) aufzubrauchen und dann auf Sozialhilfeniveau weiterleben muss. Hat sein Lebenspartner jedoch einen auch nur mäßigen Verdienst erhält er nicht einmal diesen Sozialhilfesatz.

Aufgrund der verschärften Anrechnungsregeln wird ein erheblicher Teil der bisherigen Bezieher von Arbeitslosenhilfe überhaupt kein Arbeitslosengeld II oder einen geringeren Betrag als bisher bekommen. Ein Großteil der schlechter Gestellten werden Frauen sein, da das Einkommen ihrer Partner den eigenen Leistungsbezug verhindert. Mit anderen Worten: Weil Männer in dieser Gesellschaft die höheren Löhne erhalten, wird bei Frauen die Leistung im Schnitt stärker gekürzt. Dass unter dem Gesetzestext von Hartz IV der Satz steht: „Dieses Gesetz berücksichtigt die Prinzipien des Gender Mainstreaming“ (also die Auswirkungen auf die unterschiedlichen Lebensbedingungen der Geschlechter) ist der reine Hohn.

Die mit Hartz IV eintretende Verarmung der Leistungsbezieher ist keineswegs ein Unfall oder eine „handwerkliche Schwäche“ des Gesetzes sondern dessen Ziel: Einerseits soll getreu dem Glaubenssatz, die Arbeitslosen seien selber Schuld an ihrer Arbeitslosigkeit, Druck auf die Leistungsbezieher ausgeübt werden, jede Arbeit anzunehmen, und diejenigen, die noch Arbeit haben, sollen ruhig noch mehr Angst davor bekommen, was passiert, wenn sie diese Arbeit verlieren. Andererseits soll mit Hartz IV aber auch effektiv Geld eingespart werden.

 

Umverteilung von unten nach oben

Was mit dem Eingesparten Geld geschieht, wird besonders deutlich angesichts der nächsten Stufe der Steuerreform, die am 1. Januar 2005 gleichzeitig mit Hartz IV in Kraft treten soll. Wie üblich profitieren höhere Einkommensgruppen von den Steuersenkungen am stärksten, was diesmal allerdings besonders deutlich ausfällt: Während der Eingangssteuersatz von 16% auf 15% sinkt, soll der Spitzensteuersatz von 45% auf 42% sinken. Für einen Einkommensmillionär, der etwas mehr als eine Million Euro im Jahr bezieht, bedeutet die Senkung des Spitzensteuersatzes eine Steuerersparnis von 30.000 Euro jährlich. Diese Steuergeschenke werden zu einem guten Teil durch die Arbeitslosen finanziert werden: Die 30.000 Euro z.B. entsprechen der Summe, die man erhält, wenn man bei 30 Arbeitslosen die monatlichen Zahlungen um etwas mehr als 80 Euro kürzt.

Insofern erleben wir eine ganz unverschleierte Umverteilung von unten nach oben. Daran würde auch die von einigen geforderte Verschiebung der Senkung des Spitzensteuersatzes nichts ändern. Sowohl unter der Kohl-Regierung als auch unter Rot-Grün wurde durch immer neue milliardenschwere Steuergeschenke an Großverdiener und Unternehmen die Einnahmebasis des Staats geschmälert. Geht man von den real gezahlten Steuern aus (berücksichtigt also nicht nur die nominellen Steuersätze, sondern auch die weitreichenden Abschreibungsmöglichkeiten), dann ist Deutschland im westeuropäischen Vergleich inzwischen ein Niedrigsteuerland. Nachdem man die Staatseinnahmen gezielt verringert hat, liefert die Staatsverschuldung das einfache Argument für einen quasi-natürlichen Sparzwang. Wenn die rot-grüne Regierung unter dem Beifall der Arbeitgeberverbände als Begründung für ihre Kürzungspolitik anführt, dass „der Sozialstaat in der bisherigen Form nicht mehr finanzierbar sei“, dann hat sie dies selbst herbeigeführt.

Wie ein schlechter Witz klingt es, wenn Grüne und SPD die Senkung der Steuersätze damit rechtfertigen, dass mehr Geld in die Taschen der Haushalte fließen müsse, um Konsum und Konjunktur anzukurbeln: das Geld, das man den Arbeitslosen mit der Kürzung ihrer Bezüge aus den sowieso schon fast leeren Taschen nimmt, ist für die Konjunktur offensichtlich nicht nötig, sondern nur das Geld, das man den Wohlhabenden durch Steuergeschenke zusätzlich in ihre gut gefüllten Taschen steckt. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott bekanntlich nicht zu sorgen.

 

Die Schaffung einer Schicht von „working poor“

Mit Hartz IV droht für alle von Arbeitslosigkeit Betroffenen nach einem Jahr Arbeitslosengeld der ungebremste Absturz in die Sozialhilfe, was nicht nur ein finanzielles Problem ist. Den Betroffenen wird damit deutlich gemacht: ihr seid jetzt ganz unten angelangt und habt keinerlei Ansprüche mehr zu stellen. Um staatliche Unterstützung zu erhalten sind nicht nur alle Vermögens- und Lebensverhältnisse offen zu legen, vor allem muss jetzt - nach den mit Hartz IV erheblich verschärften „Zumutbarkeitsregelungen“ - jede Arbeit angenommen werden, sonst wird die Unterstützung gekürzt oder ganz gestrichen. Das physische Überleben - und nicht vielmehr wird von der Sozialhilfe oder dem Arbeitslosengeld II gesichert - wird nur garantiert, wenn man bereit ist, seine Arbeitskraft auch zu schlechtesten Bedingungen auf den Markt zu werfen.

Das bedeutet einerseits, dass man gezwungen ist, die nach dem Gesetz zu schaffenden „im öffentlichen Interesse liegenden, zusätzlichen Arbeiten“, die mit einem oder zwei Euro pro Stunde entlohnt werden („Entschädigung für Mehraufwendungen“), anzunehmen. Diese Arbeitsgelegenheiten dienen in erster Linie dazu die „Arbeitswilligkeit“ der Leistungsempfänger zu testen und sie gegebenenfalls vom Leistungsbezug auszuschließen. Sie haben also in erster Linie eine repressive Funktion. Wenn aber, wie angekündigt, Kommunen und Wohlfahrtsverbände solche Ein-Euro-Jobs (die es bereits jetzt in gewissem Umfang für Sozialhilfeempfänger gibt) in größerem Umfang schaffen, dann werden dadurch nicht nur mit Sicherheit reguläre Stellen abgebaut, es fällt auch die (im Moment noch teilweise vorhandene) Hemmung weg, solche Jobs anzubieten. Ein extremer Niedriglohnsektor wird damit gesellschaftsfähig.

Ergänzend wird mit den verschärften Zumutbarkeitsregeln für die Bezieher von Arbeitslosengeld II jede auf dem Arbeitsmarkt angebotene Arbeit als zumutbar erklärt. Sie muss angenommen werden, egal wie unqualifiziert, egal wie schlecht bezahlt sie ist. Die einzige noch bestehende Grenze ist die „Sittenwidrigkeit“ der Bezahlung und die besteht erst dann, wenn die Bezahlung um mehr als 30% unter dem ortsüblichen Tarif liegt.

Wenn die Tariflöhne in strukturschwachen Gebieten sowieso schon niedrig sind, im Sicherheits- und Bewachungsgewerbe liegen sie z.B. je nach Region zwischen 4,5 und 6 Euro brutto pro Stunde, und man dann nochmals 30% abzieht, erreicht man mit einer Vollzeitstelle gerade mal ein Bruttoeinkommen von 700-800 Euro. Nur zum Vergleich: die Pfändungsgrenze, also das, was zum Leben als unbedingt erforderlich gilt, und wovon dem Gläubiger daher auch nichts abgegeben werden muss, liegt derzeit für eine Einzelperson bei 930 Euro.

Menschen, die nicht aufgrund fehlender Beschäftigung arm sind, sondern trotz einer Vollzeitbeschäftigung, bezeichnet man als working poor. Bisher arbeiten „nur“ 12% der Vollzeitbeschäftigten in der BRD zu Armutslöhnen (vgl. Claus Schäfer, Effektiv gezahlte Niedriglöhne in Deutschland, in: WSI-Mitteilungen 7/2003). Mit Hartz IV wird sich dies bald ändern: die letzten Schamgrenzen, Arbeitsplätze zu Hungerlöhnen anzubieten, werden fallen und von Rot-Grün werden die Arbeitslosen in genau diese Beschäftigungsverhältnisse hineingezwungen. Die working poor, mit allen aus anderen Ländern gut bekannten Konsequenzen wie z.B. den erheblich schlechteren Bildungschancen für deren Kinder, werden bald zur gesellschaftlichen Normalität der Bundesrepublik gehören.

 

Konsequenzen für die Gewerkschaften

Schon jetzt sind die Gewerkschaften angesichts zurückgehender Mitgliederzahlen und hoher Arbeitslosigkeit geschwächt und das System der Flächentarifverträge befindet sich in einem Erosionsprozess. In Zukunft werden Gewerkschaften aber nicht nur mit dem allgemeinen Druck der Arbeitslosigkeit konfrontiert sein, der ihre Verhandlungsposition schwächt, zukünftig werden die Arbeitslosen - gezwungen durch die Gesetze der rot-grünen Regierung - zu Tarifbrechern werden. Das Tarifgefüge wird sich damit noch weiter absenken, wodurch sich auch die Löhne der „zumutbaren“ Arbeit (30% unter Tarif) weiter verringern werden: eine einzige Rutschbahn nach unten.

Diese Rutschbahn ist auch auf internationaler Ebene wirksam. Wenn ausgerechnet beim Exportweltmeister Deutschland ein wachsender Bereich von Armutslöhnen und sinkenden Tarifen eingeführt wird, dann wird allen anderen, am Weltmarkt weniger erfolgreichen Ökonomien nicht viel anderes übrig bleiben als Ähnliches zu versuchen. Was der US-amerikanische Ökonom Paul Krugman schon vor Jahren den „Wettlauf der Besessenen“ nannte, einen Wettlauf hin zu immer schlechteren Bedingungen, wird durch die rot-grüne Politik kräftig angekurbelt.

In der Geschichte der Bundesrepublik wurde die Position der Gewerkschaften wahrscheinlich von keiner anderen Regierung so stark unterminiert, wie durch die von der rot-grünen Koalition beschlossenen Zumutbarkeitsregelungen. Trotzdem stehen die Führungen von DGB und Einzelgewerkschaften, wenn auch häufig nur noch zähneknirschend, treu zur Regierung. Und wenn doch einmal ein Gewerkschaftsvorsitzender wie jüngst ver.di-Chef Frank Bsirske, den offensichtlichen Sachverhalt, dass die Regierung bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gescheitert ist, öffentlich ausspricht, wird er gleich gezwungen zurückzurudern. Wie einst im Realsozialismus der DDR gilt anscheinend auch bei Rot-Grün das Aussprechen allseits bekannter Wahrheiten als Majestätsbeleidigung.

Dass die Gewerkschaftsführungen nach wie vor zur Regierung stehen und ihre Kritik äußerst moderat bleibt, liegt wohl daran, dass sie glauben, wenigstens noch über so viel Einfluss zu verfügen, um „das Schlimmste zu verhindern“ - wobei aber das, was gestern noch als „das Schlimmste“ erschien, heute bereits zum „kleineren Übel“ wird, das man gegen noch Schlimmeres verteidigt. Dass die CDU zuweilen noch größere Grausamkeiten fordert als Rot-Grün den Bürgern zumutet, mag diese Haltung verstärken. Allerdings sollte man nicht übersehen, dass die rot-grüne Bundesregierung mit ihrem immer schärferen neoliberalen Kurs die Union geradezu vor sich her treibt: um sich überhaupt noch von Rot-Grün zu unterscheiden, bleibt der CDU nichts anderes übrig, als immer noch ein bisschen mehr Sozialabbau zu fordern, als von Rot-Grün selbst schon bewerkstelligt wird.

 

Der Niedergang der Sozialdemokratie

Unterhalb der Führungsebenen sieht es in vielen Gewerkschaften häufig ganz anders aus. Der angestaute Frust von Gewerkschaftsmitgliedern und mittleren Funktionären ist enorm. Und sie lassen sich auch nicht mehr mit dem Verweis auf die noch schlimmere CDU bei der rot-grünen Stange halten. Während Rot-Grün in der noch einigermaßen wohlhabenden „neuen Mitte“ punkten kann, beginnt das traditionelle sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Klientel der SPD die Loyalität aufzukündigen.

Der Unmut artikuliert sich zunehmend öffentlich, in vermehrten Demonstrationen, in Wahlenthaltungen und Parteiaustritten vor allem der SPD Basis, in Parteigründungsinitiativen. Bis weit in die Mittelschichten hinein ist inzwischen die Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg verbreitet. Die Mär vom „faulen Arbeitslosen“ taugt nicht mehr, wenn Arbeitslosigkeit an sich selbst oder an nahen Bekannten und Verwandten erfahren wird und wenn ins allgemeine Bewusstsein dringt, dass (wie im Juli 2004) den über 4,3 Millionen arbeitslos gemeldeten Personen gerade mal 300.000 gemeldete offen Stellen gegenüberstehen (von denen die meisten in kürzester Zeit besetzt werden). Und dass Hartz IV den Abstieg der von Arbeitslosigkeit Betroffenen beschleunigt, ist inzwischen auch bei vielen Menschen angekommen. Dass dieser Abstieg gerade von der Sozialdemokratie, die bislang als der Anwalt der „kleinen Leute“ galt, organisiert wird, macht die Sache nicht besser.

Bei den bisherigen Wahlen kamen die Grünen noch ungeschoren davon oder konnten sogar Zuwächse verbuchen. Da soziale Fragen noch nie im Zentrum grüner Politik standen, macht man die Grünen weit weniger als die SPD für den Sozialabbau verantwortlich, obwohl sie häufig noch stärker neoliberal argumentieren. Ihren linken Rand haben die Grünen jedenfalls schon lange verloren. Hinzu kommt: inzwischen sind sie (neben der FDP) die Partei der „Besserverdienenden“ und derjenigen, die darauf hoffen, dies bald zu sein. Insofern machen die Grünen, denen merkwürdigerweise immer noch der Ruf anhaftet, „postmaterialistische Werte“ zu vertreten, eine knallhart „materialistische“ Interessenpolitik für ihr gutverdienendes Klientel: es profitiert von der Steuerreform und braucht 10 Euro Praxisgebühr nicht zu fürchten.

Wahlpolitisch entlädt sich der Unmut über die Regierungspolitik vor allem bei der SPD. Bei der Europawahl hat das traditionelle sozialdemokratische Klientel zu einem großen Teil mit Wahlenthaltung reagiert und der SPD mit 21% der abgegebenen Stimmen (weniger als 10% der Wahlberechtigten!) das mit großem Abstand schlechteste Ergebnis beschert, das sie jemals in einer bundesweiten Wahl erreichte. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, weitere Einbrüche bei den nächsten Wahlen vorauszusagen. Inzwischen wählen mehr Arbeiter und Arbeiterinnen CDU als SPD. Dass die CDU trotzdem von der Schwäche der SPD bisher nicht richtig profitieren konnte, sondern ebenfalls wenn auch weit kleinere Stimmenverluste hinnehmen musste, deutet darauf hin, dass den frustrierten SPD Wählern klar ist, dass von der CDU auch keine andere Politik zu erwarten ist.

Die PDS, die im Westen Deutschlands auch 14 Jahre nach der Vereinigung nicht wirklich angekommen ist (sie ist nicht nur in keinem einzigen westdeutschen Landesparlament vertreten, sie kandidiert nicht einmal), und dort wo sie mitregiert, wie im Land Berlin, die sozialdemokratische Politik voll und geradezu mit Begeisterung (um ihre Regierungstauglichkeit zu beweisen) mitträgt, kommt als Auffangbecken der Unzufriedenheit allenfalls noch in Teilen Ostdeutschlands in Frage. Von daher sind die Versuche zur Gründung einer neuen „Linkspartei“ wenig überraschend. Überraschend ist vielmehr wie schnell und wie breit dieser Versuch auf Zustimmung gestoßen ist. Noch bevor sich eine solche Partei auch nur gegründet hat, über ihr Programm nur soviel klar ist, dass sie sozialstaatliche Sicherungen erhalten und die Bezieher höherer Einkommen stärker zur Finanzierung heranziehen will, und ohne auch nur einen einzigen etwas prominenteren Kopf aufweisen zu können, erklären in Umfragen 6% dass sie diese Partei sicher und 18%, dass sie sie vielleicht wählen würden. Offensichtlich ist das parteipolitische System der Bundesrepublik in einem ähnlichen Zustand wie während der Gründungsphase der Grünen Ende der 70er Jahre: der Unmut über die etablierten Parteien und insbesondere über die sozialdemokratisch geführte Regierung, ist dermaßen groß, dass sich die Wähler nicht mehr von der ewigen Leier des „kleineren Übels“, der „verlorenen Stimmen“ oder der „Spaltung der Linken“ davon abhalten lassen, eine neue Partei zu wählen - auch wenn diese Partei ein zunächst noch verworrenes Bild abgibt.

Drastischer als Ende der 70er Jahre ist heute allerdings der Niedergang der SPD. Es ist nicht mehr nur ein kleiner linker Rand, der sich von der SPD abnabelt, sondern der traditionelle sozialdemokratische Kern, der sich enttäuscht von „seiner“ Partei abwendet. Die hilflosen Beschwörungen der SPD-Führungsriege, die Menschen hätten ihre Politik bloß nicht verstanden, können daran nichts ändern. Die Verluste der SPD dürften daher (egal ob mit oder ohne neue Linkspartei) erheblich stärker ausfallen als in den 80er Jahren und sie dürften wahrscheinlich auch langfristiger sein: es ist kaum zu erwarten, dass die Mehrheit der langjährigen Anhänger und Wähler, die sich jetzt schwer enttäuscht von der SPD abwenden, sich ihr wieder zuwenden, wenn sie ab 2006 in der Opposition genau die Politik vollmundig kritisiert, die sie als Regierungspartei selbst betrieben hat. Die einzige Hoffnung der gegenwärtigen SPD-Führung, dass ein wirtschaftlicher Aufschwung die sozialen Härten vergessen macht und als Erfolg der eigenen Politik ausgegeben werden kann, wird sich wohl kaum erfüllen. Stattdessen dürfte die SPD aufgrund der Politik von Schröder, Clement und Müntefering auf lange Zeit beschädigt bleiben.

Mit der Agenda 2010 und Hartz IV wird nicht nur ein erheblicher sozioökonomischer Umbau eingeleitet, von dem noch nicht alle Konsequenzen abzusehen sind, es zeigen sich auch Verwerfungen im parteipolitischen System, deren weitere Entwicklung offen ist. Dies sollte wenigstens die Linke dazu motivieren, nicht nur zu versuchen, die jeweils letzte Verschlechterung zu verhindern, sondern auch wieder grundsätzliche Fragen aufzuwerfen. Der materielle Reichtum in Deutschland war noch nie so groß wie jetzt. Gleichzeitig sollen die umfangreichsten Sozialkürzungen der bundesdeutschen Geschichte stattfinden. Der einzige Ausweg, den die herrschende Politik angesichts von millionenfacher Arbeitslosigkeit kennt, besteht darin, die Reichen noch reicher zu machen, auf dass vielleicht ein paar Brosamen für die Armen abfallen. Ein stärkeres Wirtschaftswachstum, ungeachtet aller davon verursachten ökologischen Probleme und gestützt auf längere und unbezahlte Arbeitszeiten, bei bereits erheblich gestiegenen Gewinnen, wird als notwendige Maßnahme zur „Standortsicherung“ propagiert. Angesichts dessen sollte man sich die Frage stellen, wie lange man ein System ertragen will, das einerseits einen noch nie da gewesenen Reichtum erzeugt, andererseits aber nur durch äußerste Anspannung der Arbeitskraft und fortschreitende Zerstörung der Natur ein für die Mehrheit einigermaßen erträgliches Auskommen ermöglicht (in den „entwickelten“ Ländern wohlgemerkt - von der sogenannten 3. Welt ganz zu schweigen). Vielleicht sollte man endlich wieder anfangen, nicht mehr nur über Alternativen im Kapitalismus, sondern auch über Alternativen zum Kapitalismus zu diskutieren - selbst wenn letztere wahrscheinlich noch lange auf sich warten lassen und man selbst erst einmal als „Utopist“ verschrieen wird.