Michael Heinrich
Agenda 2010 und Hartz IV
Vom rot-grünen Neoliberalismus zum Protest
in: PROKLA.
Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 136 „Umbrüche des Sozialstaats“
34. Jahrgang, Nr. 3, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, September
2004
Seit dem ersten
„Haushaltsstrukturgesetz“, mit dem Helmut Schmidts SPD/FDP Koalition auf die
Krise von 1974/75 reagierte, gab es in der Bundesrepublik immer wieder Einschnitte
ins soziale Netz. Diese stießen jedes Mal auf heftige Kritik von
Gewerkschaften, Sozialverbänden und - sofern sie in der Opposition waren - auch
von SPD und Grünen. Nicht selten wurde bei mancher graduellen Verschlechterung
schon der große qualitative Bruch im westdeutschen Sozialstaat beschworen. Mit
der von der rot-grünen Bundesregierung beschlossenen „Agenda 2010“ könnte sich
eine solche Einschätzung allerdings als gerechtfertigt erweisen. Umgesetzt
wurde bereits die so genannte Gesundheitsreform: während die gut verdienenden
Teile des Gesundheitssystems, wie die Pharmaindustrie geschont wurden, müssen
Versicherte und Patienten höhere Lasten tragen (Praxisgebühr, erhöhte
Zuzahlungen, Ausgliederung des Zahnersatzes ab 2005 und des Krankengeldes ab
2006 aus der gesetzlichen Krankenversicherung), um die Arbeitgeber bei den
Lohnnebenkosten zu entlasten. Neben dieser „Gesundheitsreform“ bildet das
gerade beschlossene „Hartz IV“ Paket das Kernstück der Agenda 2010. Es stellt
nicht nur, wie die FAZ am 30.6.2004 titelte, „Die größte Kürzung von
Sozialleistungen seit 1949“ dar, es wird darüber hinaus auch erhebliche
Auswirkungen auf Arbeitslose wie auf Beschäftigte haben und vielleicht auch
eine einschneidende Veränderung der (partei)politischen Landschaft einleiten.
Dabei folgte Hartz IV von seiner
Entstehung her keineswegs einem Masterplan zum grundlegenden Umbau des
Sozialstaats. Entstanden ist der Prozess, an dessen Endpunkt jetzt die Hartz IV
Gesetze stehen, eher zufällig, aus dem Skandal um geschönte Vermittlungszahlen
bei den Arbeitsämtern im Frühjahr 2002. Dieser Skandal führte zur Einsetzung
der nach ihrem Vorsitzenden benannten „Hartz-Kommission“, die Vorschläge zur
Modernisierung der Arbeitsvermittlung und zum Umbau des Arbeitsamtes machen
sollte. Im Wahljahr 2002 stand die rot-grüne Bundesregierung aber auch unter
erheblichem Legitimationsdruck: wollte sie sich doch, wie dies Gerhard Schröder
beim Regierungsantritt 1998 vollmundig verkündet hatte, an der Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit messen lassen - und da gab es alles andere als
Erfolgsmeldungen. Als die Hartz-Kommission ihren ursprünglichen Auftrag
ausweitete und kurz vor dem Wahltermin umfassende Arbeitsmarktreformen
vorschlug, wurde dies von der Regierung dankbar aufgenommen: gebetsmühlenartig
wurde die „Eins zu Eins Umsetzung“ der Kommissionsvorschläge als ultimative
Lösung aller Probleme wiederholt, die nicht „zerredet“ werden dürfte. Bereits
damals war Rot-Grün in der Tradition des deutschen Obrigkeitsstaates
angekommen: was von oben kommt, haben die unten ohne Diskussion zu schlucken.
Nicht ganz so zufällig wie das
Zustandekommen der Hartz-Kommission war der Inhalt ihrer Vorschläge.
Entsprechend dem bis weit in Sozialdemokratie und Grüne vorgedrungenen
neoliberalen Zeitgeist und den (zumindest kurzfristigen) Interessen der
Unternehmer wurde einerseits die Verbilligung der Arbeitskraft angestrebt -
gemäß dem Credo der neoklassischen Theorie, dass niedrigere Löhne oder
Lohnnebenkosten zu mehr Einstellungen führen würden - und andererseits wurden
die Arbeitslosen selbst für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht, da
sie zu unflexibel seien, sich zu wenig um einen Job bemühen würden oder nicht
bereit wären, zu einem niedrigen Lohn zu arbeiten. Damit hatte man auch gleich
die Lösung parat: mehr Druck auf die arbeitslosen Leistungsbezieher. Dass es
angesichts der Millionen von Arbeitslosen viel zu wenige freie Stellen gab,
wurde dabei geflissentlich ausgeblendet.
Den Unternehmern kam vor allem der
Versuch entgegen, die Lohnnebenkosten zu senken. Aufgrund der anhaltenden
Massenarbeitslosigkeit waren die Gewerkschaften bereits erheblich geschwächt
und konnten seit Jahren nur relativ geringe Tariferhöhungen durchsetzen. Seit
Mitte der 90er Jahre stiegen die Löhne in Deutschland langsamer als in den
meisten westeuropäischen Ländern. Zudem wurden die meisten Tarifverträge mit
Öffnungsklauseln versehen und in vielen Unternehmen galt nicht mehr der
Flächentarif sondern ein zuweilen erheblich schlechterer Haustarif. Der Anstieg
der Tariflöhne bildete für die Unternehmen also kein Problem. Der Entwicklung
der Lohnnebenkosten war durch die Schwäche der Gewerkschaften aber nicht
beizukommen, wurden doch hier von den Sozialversicherungen die Kosten auf die
von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu zahlenden Beiträge umgelegt. Daher der
dauernde Ruf nach Begrenzung der Lohnnebenkosten, was von Rot-Grün mit Renten-
und Gesundheitsreform denn auch angegangen wurde: de facto wurde vom Prinzip
der paritätischen Finanzierung der Sozialversicherungen durch Arbeitnehmer und
Arbeitgeber immer weiter abgegangen, indem den Arbeitnehmern durch den Zwang
zur „privaten Vorsorge“ zunächst für die Rente und jetzt auch für eine Reihe
von Gesundheitsleistungen immer höhere Kostenanteile aufgebürdet wurden.
Nebenbei wurden damit attraktive Geschäftsfelder für Banken und Versicherungen
geschaffen.
Hartz IV nimmt mit der Zusammenlegung
von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe und den verschärften Zumutbarkeitsregeln
sowohl den Kosten- als auch den Verantwortungsdiskurs auf. Allerdings werden
die Konsequenzen erheblich einschneidender sein als bei allen vorangegangenen
rot-grünen „Reform“vorhaben.
Die
gewollte Verarmung der Empfänger staatlicher Hilfen
Auch bei langandauernder
Arbeitslosigkeit rutschte man bisher nicht automatisch in Armut ab (nach einer
gängigen Definition ist ein Haushalt arm, wenn er weniger als 50% des
durchschnittlichen Haushaltseinkommens zur Verfügung hat). Je nach
Beschäftigungsdauer und Lebensalter wurde bis zu 32 Monate lang
Arbeitslosengeld bezahlt, das bei ca. 60% des früheren Netto-Arbeitseinkommens
lag und als reine Versicherungsleistung unabhängig vom eigenen Vermögen oder
vom Einkommen des Lebenspartners gezahlt wurde. Darauf folgte die
Arbeitslosenhilfe, die ebenfalls noch an das frühere Arbeitseinkommen gekoppelt
war (wenn auch mit niedrigeren Prozentsätzen) und deren Bewilligung in gewissem
Umfang vom eigenen Vermögen und vom Einkommen des Lebenspartners abhing. Der
finanzielle Abstieg bei längerer Arbeitslosigkeit war damit einigermaßen
abgemildert und zeitlich verzögert.
Mit Hartz IV ändert sich diese
Situation grundlegend: das Arbeitslosengeld wird für Beschäftigte unter 53
Jahren auf maximal 12 Monate begrenzt (wer älter als 53 ist, erhält maximal 18
Monate Arbeitslosengeld) und danach gibt es - unter Umständen - das neue
Arbeitslosengeld II, das aus der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe hervorgegangen ist. Allerdings wurde mit dieser Zusammenlegung de
facto die Arbeitslosenhilfe abgeschafft: die Höhe des Arbeitslosengeld II hängt
nicht mehr vom früheren Arbeitseinkommen ab, sondern wurde auf
Sozialhilfeniveau gesenkt (d.h. Kosten für „angemessenen“ Wohnraum plus 345
Euro in West- und 331 Euro in Ostdeutschland). Für die Anrechnung von Vermögen
und Partnereinkommen gelten die erheblich schärferen Regelungen der
Sozialhilfe. (Für bisherige Sozialhilfeempfänger gibt es an einigen Punkten
Verbesserungen, aber auch einige Verschlechterungen).
Konkret bedeutet dies für einen z.B.
52jährigen Arbeitnehmer, der vielleicht 30 oder mehr Jahre gearbeitet und
Sozialversicherungsbeiträge gezahlt hat, dass er bei Arbeitslosigkeit gerade
mal 12 Monate Arbeitslosengeld erhält, danach gezwungen ist, sein Vermögen bis
auf relativ geringe Freibeträge (die vor allem der Altersvorsorge dienen
sollen) aufzubrauchen und dann auf Sozialhilfeniveau weiterleben muss. Hat sein
Lebenspartner jedoch einen auch nur mäßigen Verdienst erhält er nicht einmal
diesen Sozialhilfesatz.
Aufgrund der verschärften
Anrechnungsregeln wird ein erheblicher Teil der bisherigen Bezieher von
Arbeitslosenhilfe überhaupt kein Arbeitslosengeld II oder einen geringeren
Betrag als bisher bekommen. Ein Großteil der schlechter Gestellten werden
Frauen sein, da das Einkommen ihrer Partner den eigenen Leistungsbezug
verhindert. Mit anderen Worten: Weil Männer in dieser Gesellschaft die höheren
Löhne erhalten, wird bei Frauen die Leistung im Schnitt stärker gekürzt. Dass
unter dem Gesetzestext von Hartz IV der Satz steht: „Dieses Gesetz
berücksichtigt die Prinzipien des Gender Mainstreaming“ (also die Auswirkungen
auf die unterschiedlichen Lebensbedingungen der Geschlechter) ist der reine
Hohn.
Die mit Hartz IV eintretende Verarmung
der Leistungsbezieher ist keineswegs ein Unfall oder eine „handwerkliche
Schwäche“ des Gesetzes sondern dessen Ziel: Einerseits soll getreu dem
Glaubenssatz, die Arbeitslosen seien selber Schuld an ihrer Arbeitslosigkeit,
Druck auf die Leistungsbezieher ausgeübt werden, jede Arbeit anzunehmen, und
diejenigen, die noch Arbeit haben, sollen ruhig noch mehr Angst davor bekommen,
was passiert, wenn sie diese Arbeit verlieren. Andererseits soll mit Hartz IV
aber auch effektiv Geld eingespart werden.
Umverteilung
von unten nach oben
Was mit dem Eingesparten Geld
geschieht, wird besonders deutlich angesichts der nächsten Stufe der
Steuerreform, die am 1. Januar 2005 gleichzeitig mit Hartz IV in Kraft treten
soll. Wie üblich profitieren höhere Einkommensgruppen von den Steuersenkungen
am stärksten, was diesmal allerdings besonders deutlich ausfällt: Während der
Eingangssteuersatz von 16% auf 15% sinkt, soll der Spitzensteuersatz von 45%
auf 42% sinken. Für einen Einkommensmillionär, der etwas mehr als eine Million
Euro im Jahr bezieht, bedeutet die Senkung des Spitzensteuersatzes eine Steuerersparnis
von 30.000 Euro jährlich. Diese Steuergeschenke werden zu einem guten Teil
durch die Arbeitslosen finanziert werden: Die 30.000 Euro z.B. entsprechen der
Summe, die man erhält, wenn man bei 30 Arbeitslosen die monatlichen Zahlungen
um etwas mehr als 80 Euro kürzt.
Insofern erleben wir eine ganz
unverschleierte Umverteilung von unten nach oben. Daran würde auch die von
einigen geforderte Verschiebung der Senkung des Spitzensteuersatzes nichts
ändern. Sowohl unter der Kohl-Regierung als auch unter Rot-Grün wurde durch
immer neue milliardenschwere Steuergeschenke an Großverdiener und Unternehmen
die Einnahmebasis des Staats geschmälert. Geht man von den real gezahlten Steuern
aus (berücksichtigt also nicht nur die nominellen Steuersätze, sondern auch die
weitreichenden Abschreibungsmöglichkeiten), dann ist Deutschland im
westeuropäischen Vergleich inzwischen ein Niedrigsteuerland. Nachdem man die
Staatseinnahmen gezielt verringert hat, liefert die Staatsverschuldung das
einfache Argument für einen quasi-natürlichen Sparzwang. Wenn die rot-grüne
Regierung unter dem Beifall der Arbeitgeberverbände als Begründung für ihre
Kürzungspolitik anführt, dass „der Sozialstaat in der bisherigen Form nicht
mehr finanzierbar sei“, dann hat sie dies selbst herbeigeführt.
Wie ein schlechter Witz klingt es,
wenn Grüne und SPD die Senkung der Steuersätze damit rechtfertigen, dass mehr
Geld in die Taschen der Haushalte fließen müsse, um Konsum und Konjunktur
anzukurbeln: das Geld, das man den Arbeitslosen mit der Kürzung ihrer Bezüge
aus den sowieso schon fast leeren Taschen nimmt, ist für die Konjunktur
offensichtlich nicht nötig, sondern nur das Geld, das man den Wohlhabenden
durch Steuergeschenke zusätzlich in ihre gut gefüllten Taschen steckt. Wer den
Schaden hat, braucht für den Spott bekanntlich nicht zu sorgen.
Die
Schaffung einer Schicht von „working poor“
Mit Hartz IV droht für alle von
Arbeitslosigkeit Betroffenen nach einem Jahr Arbeitslosengeld der ungebremste
Absturz in die Sozialhilfe, was nicht nur ein finanzielles Problem ist. Den
Betroffenen wird damit deutlich gemacht: ihr seid jetzt ganz unten angelangt
und habt keinerlei Ansprüche mehr zu stellen. Um staatliche Unterstützung zu
erhalten sind nicht nur alle Vermögens- und Lebensverhältnisse offen zu legen,
vor allem muss jetzt - nach den mit Hartz IV erheblich verschärften
„Zumutbarkeitsregelungen“ - jede Arbeit angenommen werden, sonst wird die
Unterstützung gekürzt oder ganz gestrichen. Das physische Überleben - und nicht
vielmehr wird von der Sozialhilfe oder dem Arbeitslosengeld II gesichert - wird
nur garantiert, wenn man bereit ist, seine Arbeitskraft auch zu schlechtesten
Bedingungen auf den Markt zu werfen.
Das bedeutet einerseits, dass man
gezwungen ist, die nach dem Gesetz zu schaffenden „im öffentlichen Interesse
liegenden, zusätzlichen Arbeiten“, die mit einem oder zwei Euro pro Stunde
entlohnt werden („Entschädigung für Mehraufwendungen“), anzunehmen. Diese
Arbeitsgelegenheiten dienen in erster Linie dazu die „Arbeitswilligkeit“ der
Leistungsempfänger zu testen und sie gegebenenfalls vom Leistungsbezug
auszuschließen. Sie haben also in erster Linie eine repressive Funktion. Wenn
aber, wie angekündigt, Kommunen und Wohlfahrtsverbände solche Ein-Euro-Jobs
(die es bereits jetzt in gewissem Umfang für Sozialhilfeempfänger gibt) in
größerem Umfang schaffen, dann werden dadurch nicht nur mit Sicherheit reguläre
Stellen abgebaut, es fällt auch die (im Moment noch teilweise vorhandene)
Hemmung weg, solche Jobs anzubieten. Ein extremer Niedriglohnsektor wird damit
gesellschaftsfähig.
Ergänzend wird mit den verschärften
Zumutbarkeitsregeln für die Bezieher von Arbeitslosengeld II jede auf dem
Arbeitsmarkt angebotene Arbeit als zumutbar erklärt. Sie muss angenommen
werden, egal wie unqualifiziert, egal wie schlecht bezahlt sie ist. Die einzige
noch bestehende Grenze ist die „Sittenwidrigkeit“ der Bezahlung und die besteht
erst dann, wenn die Bezahlung um mehr als 30% unter dem ortsüblichen Tarif
liegt.
Wenn die Tariflöhne in
strukturschwachen Gebieten sowieso schon niedrig sind, im Sicherheits- und
Bewachungsgewerbe liegen sie z.B. je nach Region zwischen 4,5 und 6 Euro brutto
pro Stunde, und man dann nochmals 30% abzieht, erreicht man mit einer
Vollzeitstelle gerade mal ein Bruttoeinkommen von 700-800 Euro. Nur zum
Vergleich: die Pfändungsgrenze, also das, was zum Leben als unbedingt
erforderlich gilt, und wovon dem Gläubiger daher auch nichts abgegeben werden
muss, liegt derzeit für eine Einzelperson bei 930 Euro.
Menschen, die nicht aufgrund fehlender
Beschäftigung arm sind, sondern trotz einer Vollzeitbeschäftigung, bezeichnet
man als working poor. Bisher arbeiten
„nur“ 12% der Vollzeitbeschäftigten in der BRD zu Armutslöhnen (vgl. Claus
Schäfer, Effektiv gezahlte Niedriglöhne in Deutschland, in: WSI-Mitteilungen
7/2003). Mit Hartz IV wird sich dies bald ändern: die letzten Schamgrenzen,
Arbeitsplätze zu Hungerlöhnen anzubieten, werden fallen und von Rot-Grün werden
die Arbeitslosen in genau diese Beschäftigungsverhältnisse hineingezwungen. Die
working poor, mit allen aus anderen
Ländern gut bekannten Konsequenzen wie z.B. den erheblich schlechteren
Bildungschancen für deren Kinder, werden bald zur gesellschaftlichen Normalität
der Bundesrepublik gehören.
Konsequenzen
für die Gewerkschaften
Schon jetzt sind die Gewerkschaften angesichts
zurückgehender Mitgliederzahlen und hoher Arbeitslosigkeit geschwächt und das
System der Flächentarifverträge befindet sich in einem Erosionsprozess. In
Zukunft werden Gewerkschaften aber nicht nur mit dem allgemeinen Druck der
Arbeitslosigkeit konfrontiert sein, der ihre Verhandlungsposition schwächt,
zukünftig werden die Arbeitslosen - gezwungen durch die Gesetze der rot-grünen
Regierung - zu Tarifbrechern werden. Das Tarifgefüge wird sich damit noch
weiter absenken, wodurch sich auch die Löhne der „zumutbaren“ Arbeit (30% unter
Tarif) weiter verringern werden: eine einzige Rutschbahn nach unten.
Diese Rutschbahn ist auch auf
internationaler Ebene wirksam. Wenn ausgerechnet beim Exportweltmeister
Deutschland ein wachsender Bereich von Armutslöhnen und sinkenden Tarifen
eingeführt wird, dann wird allen anderen, am Weltmarkt weniger erfolgreichen
Ökonomien nicht viel anderes übrig bleiben als Ähnliches zu versuchen. Was der
US-amerikanische Ökonom Paul Krugman schon vor Jahren den „Wettlauf der Besessenen“
nannte, einen Wettlauf hin zu immer schlechteren Bedingungen, wird durch die
rot-grüne Politik kräftig angekurbelt.
In der Geschichte der Bundesrepublik
wurde die Position der Gewerkschaften wahrscheinlich von keiner anderen
Regierung so stark unterminiert, wie durch die von der rot-grünen Koalition
beschlossenen Zumutbarkeitsregelungen. Trotzdem stehen die Führungen von DGB
und Einzelgewerkschaften, wenn auch häufig nur noch zähneknirschend, treu zur
Regierung. Und wenn doch einmal ein Gewerkschaftsvorsitzender wie jüngst
ver.di-Chef Frank Bsirske, den offensichtlichen Sachverhalt, dass die Regierung
bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gescheitert ist, öffentlich ausspricht,
wird er gleich gezwungen zurückzurudern. Wie einst im Realsozialismus der DDR
gilt anscheinend auch bei Rot-Grün das Aussprechen allseits bekannter
Wahrheiten als Majestätsbeleidigung.
Dass die Gewerkschaftsführungen nach
wie vor zur Regierung stehen und ihre Kritik äußerst moderat bleibt, liegt wohl
daran, dass sie glauben, wenigstens noch über so viel Einfluss zu verfügen, um
„das Schlimmste zu verhindern“ - wobei aber das, was gestern noch als „das
Schlimmste“ erschien, heute bereits zum „kleineren Übel“ wird, das man gegen
noch Schlimmeres verteidigt. Dass die CDU zuweilen noch größere Grausamkeiten
fordert als Rot-Grün den Bürgern zumutet, mag diese Haltung verstärken.
Allerdings sollte man nicht übersehen, dass die rot-grüne Bundesregierung mit
ihrem immer schärferen neoliberalen Kurs die Union geradezu vor sich her treibt:
um sich überhaupt noch von Rot-Grün zu unterscheiden, bleibt der CDU nichts
anderes übrig, als immer noch ein bisschen mehr Sozialabbau zu fordern, als von
Rot-Grün selbst schon bewerkstelligt wird.
Der
Niedergang der Sozialdemokratie
Unterhalb der Führungsebenen sieht es
in vielen Gewerkschaften häufig ganz anders aus. Der angestaute Frust von
Gewerkschaftsmitgliedern und mittleren Funktionären ist enorm. Und sie lassen
sich auch nicht mehr mit dem Verweis auf die noch schlimmere CDU bei der rot-grünen
Stange halten. Während Rot-Grün in der noch einigermaßen wohlhabenden „neuen
Mitte“ punkten kann, beginnt das traditionelle
sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Klientel der SPD die Loyalität
aufzukündigen.
Der Unmut artikuliert sich zunehmend
öffentlich, in vermehrten Demonstrationen, in Wahlenthaltungen und
Parteiaustritten vor allem der SPD Basis, in Parteigründungsinitiativen. Bis
weit in die Mittelschichten hinein ist inzwischen die Angst vor
Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg verbreitet. Die Mär vom „faulen
Arbeitslosen“ taugt nicht mehr, wenn Arbeitslosigkeit an sich selbst oder an
nahen Bekannten und Verwandten erfahren wird und wenn ins allgemeine
Bewusstsein dringt, dass (wie im Juli 2004) den über 4,3 Millionen arbeitslos
gemeldeten Personen gerade mal 300.000 gemeldete offen Stellen gegenüberstehen
(von denen die meisten in kürzester Zeit besetzt werden). Und dass Hartz IV den
Abstieg der von Arbeitslosigkeit Betroffenen beschleunigt, ist inzwischen auch
bei vielen Menschen angekommen. Dass dieser Abstieg gerade von der
Sozialdemokratie, die bislang als der Anwalt der „kleinen Leute“ galt,
organisiert wird, macht die Sache nicht besser.
Bei den bisherigen Wahlen kamen die
Grünen noch ungeschoren davon oder konnten sogar Zuwächse verbuchen. Da soziale
Fragen noch nie im Zentrum grüner Politik standen, macht man die Grünen weit
weniger als die SPD für den Sozialabbau verantwortlich, obwohl sie häufig noch
stärker neoliberal argumentieren. Ihren linken Rand haben die Grünen jedenfalls
schon lange verloren. Hinzu kommt: inzwischen sind sie (neben der FDP) die
Partei der „Besserverdienenden“ und derjenigen, die darauf hoffen, dies bald zu
sein. Insofern machen die Grünen, denen merkwürdigerweise immer noch der Ruf
anhaftet, „postmaterialistische Werte“ zu vertreten, eine knallhart
„materialistische“ Interessenpolitik für ihr gutverdienendes Klientel: es
profitiert von der Steuerreform und braucht 10 Euro Praxisgebühr nicht zu
fürchten.
Wahlpolitisch entlädt sich der Unmut
über die Regierungspolitik vor allem bei der SPD. Bei der Europawahl hat das
traditionelle sozialdemokratische Klientel zu einem großen Teil mit
Wahlenthaltung reagiert und der SPD mit 21% der abgegebenen Stimmen (weniger
als 10% der Wahlberechtigten!) das mit großem Abstand schlechteste Ergebnis
beschert, das sie jemals in einer bundesweiten Wahl erreichte. Es gehört nicht
viel Phantasie dazu, weitere Einbrüche bei den nächsten Wahlen vorauszusagen.
Inzwischen wählen mehr Arbeiter und Arbeiterinnen CDU als SPD. Dass die CDU
trotzdem von der Schwäche der SPD bisher nicht richtig profitieren konnte,
sondern ebenfalls wenn auch weit kleinere Stimmenverluste hinnehmen musste,
deutet darauf hin, dass den frustrierten SPD Wählern klar ist, dass von der CDU
auch keine andere Politik zu erwarten ist.
Die PDS, die im Westen Deutschlands
auch 14 Jahre nach der Vereinigung nicht wirklich angekommen ist (sie ist nicht
nur in keinem einzigen westdeutschen Landesparlament vertreten, sie kandidiert
nicht einmal), und dort wo sie mitregiert, wie im Land Berlin, die
sozialdemokratische Politik voll und geradezu mit Begeisterung (um ihre
Regierungstauglichkeit zu beweisen) mitträgt, kommt als Auffangbecken der
Unzufriedenheit allenfalls noch in Teilen Ostdeutschlands in Frage. Von daher
sind die Versuche zur Gründung einer neuen „Linkspartei“ wenig überraschend.
Überraschend ist vielmehr wie schnell und wie breit dieser Versuch auf
Zustimmung gestoßen ist. Noch bevor sich eine solche Partei auch nur gegründet
hat, über ihr Programm nur soviel klar ist, dass sie sozialstaatliche
Sicherungen erhalten und die Bezieher höherer Einkommen stärker zur Finanzierung
heranziehen will, und ohne auch nur einen einzigen etwas prominenteren Kopf
aufweisen zu können, erklären in Umfragen 6% dass sie diese Partei sicher und
18%, dass sie sie vielleicht wählen würden. Offensichtlich ist das
parteipolitische System der Bundesrepublik in einem ähnlichen Zustand wie
während der Gründungsphase der Grünen Ende der 70er Jahre: der Unmut über die
etablierten Parteien und insbesondere über die sozialdemokratisch geführte
Regierung, ist dermaßen groß, dass sich die Wähler nicht mehr von der ewigen
Leier des „kleineren Übels“, der „verlorenen Stimmen“ oder der „Spaltung der
Linken“ davon abhalten lassen, eine neue Partei zu wählen - auch wenn diese
Partei ein zunächst noch verworrenes Bild abgibt.
Drastischer als Ende der 70er Jahre
ist heute allerdings der Niedergang der SPD. Es ist nicht mehr nur ein kleiner
linker Rand, der sich von der SPD abnabelt, sondern der traditionelle sozialdemokratische
Kern, der sich enttäuscht von „seiner“ Partei abwendet. Die hilflosen
Beschwörungen der SPD-Führungsriege, die Menschen hätten ihre Politik bloß
nicht verstanden, können daran nichts ändern. Die Verluste der SPD dürften
daher (egal ob mit oder ohne neue Linkspartei) erheblich stärker ausfallen als
in den 80er Jahren und sie dürften wahrscheinlich auch langfristiger sein: es
ist kaum zu erwarten, dass die Mehrheit der langjährigen Anhänger und Wähler,
die sich jetzt schwer enttäuscht von der SPD abwenden, sich ihr wieder
zuwenden, wenn sie ab 2006 in der Opposition genau die Politik vollmundig
kritisiert, die sie als Regierungspartei selbst betrieben hat. Die einzige
Hoffnung der gegenwärtigen SPD-Führung, dass ein wirtschaftlicher Aufschwung die
sozialen Härten vergessen macht und als Erfolg der eigenen Politik ausgegeben
werden kann, wird sich wohl kaum erfüllen. Stattdessen dürfte die SPD aufgrund
der Politik von Schröder, Clement und Müntefering auf lange Zeit beschädigt
bleiben.
Mit der Agenda 2010 und Hartz IV wird
nicht nur ein erheblicher sozioökonomischer Umbau eingeleitet, von dem noch
nicht alle Konsequenzen abzusehen sind, es zeigen sich auch Verwerfungen im
parteipolitischen System, deren weitere Entwicklung offen ist. Dies sollte wenigstens
die Linke dazu motivieren, nicht nur zu versuchen, die jeweils letzte
Verschlechterung zu verhindern, sondern auch wieder grundsätzliche Fragen
aufzuwerfen. Der materielle Reichtum in Deutschland war noch nie so groß wie
jetzt. Gleichzeitig sollen die umfangreichsten Sozialkürzungen der bundesdeutschen
Geschichte stattfinden. Der einzige Ausweg, den die herrschende Politik
angesichts von millionenfacher Arbeitslosigkeit kennt, besteht darin, die
Reichen noch reicher zu machen, auf dass vielleicht ein paar Brosamen für die
Armen abfallen. Ein stärkeres Wirtschaftswachstum, ungeachtet aller davon
verursachten ökologischen Probleme und gestützt auf längere und unbezahlte
Arbeitszeiten, bei bereits erheblich gestiegenen Gewinnen, wird als notwendige
Maßnahme zur „Standortsicherung“ propagiert. Angesichts dessen sollte man sich
die Frage stellen, wie lange man ein System ertragen will, das einerseits einen
noch nie da gewesenen Reichtum erzeugt, andererseits aber nur durch äußerste
Anspannung der Arbeitskraft und fortschreitende Zerstörung der Natur ein für
die Mehrheit einigermaßen erträgliches Auskommen ermöglicht (in den
„entwickelten“ Ländern wohlgemerkt - von der sogenannten 3. Welt ganz zu
schweigen). Vielleicht sollte man endlich wieder anfangen, nicht mehr nur über
Alternativen im Kapitalismus, sondern auch über Alternativen zum Kapitalismus
zu diskutieren - selbst wenn letztere wahrscheinlich noch lange auf sich warten
lassen und man selbst erst einmal als „Utopist“ verschrieen wird.