Michael Heinrich

Die gegenwärtige Finanzkrise und die Zukunft des globalen Kapitalismus

in: Phase 2.28, Juni 2008, S.56-59

 

 

Untergangsprophezeiungen

Dass sich Marx im Winter 1857/58 endlich an die Abfassung seines lange geplanten ökonomischen Werkes machte, hatte seinen unmittelbaren Grund in der im Herbst 1857 ausgebrochenen Wirtschaftskrise und der mit ihr verbundenen Erwartung einer tiefen Erschütterung, von der sich der Kapitalismus nicht mehr erholen würde. Er arbeite „wie toll die Nächte durch“ schrieb Marx im Dezember 1857 in einem Brief an Engels, damit er „wenigstens die Grundrisse im klaren habe bevor dem déluge“ (MEW 29, S. 225). Tatsächlich handelte es sich bei der Krise 1857/58 um die erste wirkliche Weltwirtschaftskrise des modernen Kapitalismus, in die schließlich alle damals führenden Länder (England, USA, Frankreich, Deutschland) hineingezogen wurden. In den gleichzeitig entstandenen „Grundrissen“, findet sich auch die einzige eindeutig zusammenbruchstheoretische Passage im Marxschen Werk (vgl. MEW 42, S. 600 ff.). Dieser Zusammenbruch, so war Marx überzeugt, würde auch revolutionäre Bewegungen freisetzen. Im Februar 1858 äußerte er gegenüber Ferdinand Lassalle sogar die Befürchtung, dass er angesichts der zu erwartenden „stürmischen Bewegungen“ mit seinem Werk „zu spät fertig werde, um noch die Welt für derartige Sachen aufmerksam zu finden“ (MEW 29, S. 551). Zwar behielt Marx darin recht, dass er mit seinem Werk nicht fertig wurde (erst neun Jahre später erschien der erste Band des „Kapital“) doch führte diese erste Weltwirtschaftskrise weder zum Zusammenbruch des Kapitalismus noch zu irgendwelchen revolutionären Bewegungen. Die Krise war bereits im Frühsommer 1858 überwunden und das kapitalistische System ging sogar enorm gestärkt aus ihr hervor. Marx hat daraus gelernt: im Kapitalismus wirken Krisen als brutaler Reinigungsakt. Gerade durch die von ihnen angerichteten Zerstörungen werden bisherige Blockaden der Akkumulation beseitigt und neue Möglichkeiten kapitalistischer Entwicklung freigesetzt.

Von der Vorstellung einer Zusammenbruchskrise hatte sich Marx gründlich verabschiedet. Als ihn Danielson, sein russischer Übersetzer, 1879 (wieder einmal) fragte, wann denn endlich mit der Fortsetzung des ersten „Kapital“-Bandes zu rechnen sei, antwortete ihm Marx, er müsse den Verlauf der gegenwärtigen Krise, die eine Reihe von Besonderheiten aufweise, abwarten, um die Analyse dieser Krise noch in sein Werk aufzunehmen und setzte abschließend hinzu: „Wie sich nun diese Krise auch entwickeln mag – deren detaillierte Beobachtung für den Erforscher der kapitalistischen Produktion und für den professionellen Theoretiker freilich von höchster Wichtigkeit ist –, sie wird wie ihre Vorgängerinnen vorübergehen und einen neuen >industriellen Zyklus< mit all seinen verschiedenen Phasen von Prosperität usw. einleiten“ (MEW 34, S. 372).

Dass sich Marx mit guten Gründen von jeder Zusammenbruchstheorie verabschiedet hatte, verhinderte jedoch nicht, dass ihr viele Marxisten die Treue hielten. Sowohl in der „marxistischen“ Sozialdemokratie vor dem ersten Weltkrieg als auch in den neuen kommunistischen Parteien in den 1920er Jahren galt es als ausgemachte Sache, dass der Kapitalismus, an den von ihm selbst hervorgebrachten, immer stärker werdenden Krisen zugrunde gehen würde. Jeder Aufschwung wurde als ein allerletztes Aufbäumen vor dem endgültigen und unausweichlichen Zusammenbruch interpretiert, was häufig zu grotesken politischen Fehleinschätzungen führte. In den frühen 1990er Jahren feierte die Zusammenbruchstheorie im neu vereinigten Deutschland wieder fröhlich Auferstehung, wenn auch mit dem Anspruch versehen, etwas ganz Neues darzustellen. Die nun folgenden Krisen, die Ostasienkrise von 1997/98, der Aktiencrash, mit dem 2000/2001 die „New Economy“-Blase platzte oder die Argentinienkrise von 2001/2002 wurden jedes Mal als sichere Anzeichen des Anfangs der endgültigen Zusammenbruchskrise gedeutet. Allerdings waren alle diese Krisen relativ schnell zu Ende. Sie hatten zwar zu enormen Verelendungsprozessen geführt (insbesondere die Ostasienkrise und die Argentinienkrise), das kapitalistische System war aber, entgegen allen Zusammenbruchsprognosen eher gestärkt aus diesen Krisen hervorgegangen. Mittlerweile gibt es wieder eine neue Krise und auch neue Prophezeiungen, dass der Untergang des Kapitalismus kurz bevor steht. Allerdings warnen inzwischen auch bürgerliche Ökonomen und selbst der Internationale Währungsfond vor der Gefahr eines internationalen Finanzcrashs mit schwerwiegenden Folgen für die Weltwirtschaft.

 

 

Von der US-amerikanischen Immobilienkrise zur internationalen Finanzkrise

Man sollte sich diese Krise also etwas genauer anschauen. Ihren Anfang nahm sie in einer Überspekulation mit anschließendem Platzen der spekulativen Blase. Seit der holländischen Tulpenkrise im frühen 17. Jahrhundert haben diese Spekulationskrisen immer wieder den selben Verlauf genommen: ein bestimmtes Vermögensobjekt (seien es nun Aktien, Häuser oder eben Tulpenzwiebeln) wird immer höher bewertet, was die Nachfrage nach diesem Objekt ankurbelt, denn alle wollen am scheinbar unaufhaltsamen Wertzuwachs teilhaben. Das eigene Vermögen schließlich auch Kredite werden zum Erwerb des Spekulationsobjektes benutzt. Aufgrund der großen Nachfrage steigt dessen Preis weiter, was zu weiterer Nachfrage führt. Doch irgendwann ist dieser Anstieg erschöpft. Es wird schwieriger neue Käufer zu finden und die ersten Anleger wollen ihre Gewinne realisieren und verkaufen. Der Preis des Spekulationsobjektes fällt. Jetzt wollen alle aussteigen, um keine Verluste zu machen, was aber den Preis noch weiter drückt. Viele von denen, die spät in die Spekulation eingestiegen sind und zu einem hohen Preis gekauft haben, machen jetzt hohe Verluste. Da mit diesen Verlusten auch ein allgemeiner Nachfrageeinbruch verbunden ist, kann sich eine solche Spekulationskrise auf die gesamte Wirtschaft auswirken. Im Prinzip ist der Verlauf solcher Spekulationskrisen heutzutage auch denjenigen bekannt, die sich an der Spekulation beteiligen. Doch ist eben nicht klar, in welcher Phase der Spekulation man sich befindet: relativ am Anfang, wo noch gute Gewinnchancen existieren, oder eher am Ende kurz vor dem Platzen der Blase. Jeder hofft, dass er noch bei den Gewinnern sein kann, auch wenn er weiß, dass der Absturz kommen wird.

Nach dem Platzen der New Economy Blase im Jahre 2000 hatte die US-amerikanische Zentralbank die Leitzinsen zwischen Januar 2001 und Mitte 2003 von 6,5 auf nur noch 1 Prozent abgesenkt, um die Investitionen über billige Kredite wieder anzukurbeln. Für zwei bis drei Jahre lagen die Zentralbankzinsen sogar unterhalb der Inflationsrate. Sinkende Zinsen machten auch den Kauf von Häusern attraktiv und in den eigenen vier Wänden zu leben, ist in den USA über alle Klassen hinweg ein akzeptiertes Ziel. Zwischen 2000 und 2005 hat sich die Summe der Hypotheken fast verdreifacht. Die stark wachsende Nachfrage nach Häusern ließ die Immobilienpreise trotz zunehmender Bautätigkeit um 10-20 Prozent pro Jahr steigen, was die Banken zu einer immer riskanteren Kreditvergabe verleitete. Der Kaufpreis wurde jetzt auch zu 100 Prozent finanziert, man verlangte von den Käufern kein Eigenkapital mehr. Normalerweise finanzieren Banken nur 60-80 Prozent des Kaufpreises, damit die Bank bei einem Zwangsverkauf des Hauses (infolge einer Zahlungsunfähigkeit des Schuldners) einen Sicherheitspuffer hat und keinen Verlust macht. Auch wenn das Haus beim Zwangsverkauf nicht den ursprünglichen Kaufpreis erzielt, bleibt in der Regel noch genug für die Rückzahlung des Kredits übrig, der Verlust liegt dann allein auf der Seite des Schuldners. Bei stark steigenden Immobilienpreisen glaubten die Bankmanager, dass nichts mehr schief gehen könne, der Sicherheitspuffer würde durch die steigenden Preise automatisch nachgeliefert. Allerdings nutzten viele Hausbesitzer die steigenden Immobilienreise zu einer Erhöhung ihrer Kredite aus, um damit ihre Konsumausgaben zu finanzieren. Die Herstellung des Sicherheitspuffers wurde damit immer weiter in die Zukunft verschoben. Darüberhinaus begannen die Banken mit der Vergabe von „Ninja“-Krediten, was für „no income, no job or assets“ auf Seiten der Kreditnehmer steht. Derartige Kredite bilden einen Großteil jener „subprime“ Kredite, von denen gegenwärtig so viel die Rede ist. Es handelt sich um Kredite an Schuldner, die sich den Kredit eigentlich gar nicht leisten können, wo also ein hohes Ausfallrisiko besteht, das sich die Bank durch extra hohe Kreditzinsen vergüten lässt. Vor allem solche „subprime“-Kredite wurden von den Banken weiterverkauft, womit sie die Sorge über zahlungsunfähige Schuldner loswurden.

Aus Immobilienkrediten unterschiedlicher Qualität wurden auf eine relativ komplizierte Weise Pakete geschnürt, die als Sicherheit für neue Wertpapierarten dienten, die auf so schöne Namen wie „Collateralized Debt Obligations“ (CDO) hören. Diese wurden dann anderen Banken und Fonds erfolgreich zum Kauf angeboten. Derartige Papiere boten einerseits eine hohe Verzinsung (da die Immobilienkäufer hohe Zinsen zu zahlen hatten) und waren andererseits scheinbar eine sehr sichere Geldanlage, da sie durch Immobilien abgesichert waren. Damit diese Geschäfte nicht in den Büchern der als Käufer auftretenden Banken auftauchten und mit Eigenkapital abgesichert werden mussten, wurden sogenannte „Structured Investment Vehicles“ (SIV) gegründet, die als Tochtergesellschaften im Ausland auftraten. Sie refinanzierten die Kosten dieser Anlagen mit kurzfristig laufenden Anleihen, für die viel weniger Zinsen zu zahlen waren, als die mit Hypotheken besicherten Spekulationspapiere einbrachten. In Deutschland folgten dieser, die staatlichen Kontrollinstanzen auf legalem Wege umgehenden Methode nicht nur Privatbanken, sondern vor allem öffentliche Banken, wie etwa die Sächsische Landesbank.

Mit den 2005 und 2006 in den USA wieder steigenden Zinsen wurde zum einen der Anstieg der Immobilienpreise abgebremst, zum anderen stiegen aber auch die Zinsbelastungen der Hypotheken, da in den meisten Fällen variable Zinsen vereinbart waren. Vor allem im „subprime“-Sektor, wo die Zinsen sowieso schon hoch waren, stieg die Zahl der Kreditausfälle stark an. Damit nahm auch die Zahl der Zwangsversteigerungen zu, was noch weiter auf die Immobilienpreise drückte. Jetzt wurde deren Preisanstieg nicht nur gebremst, seit Ende 2006 kam es zu sinkenden Immobilienpreise.

Mit der zunehmenden Zahlungsunfähigkeit der Immobilienkäufer brachen jedoch die Zinseinnahmen der auf diesen Krediten beruhenden Wertpapiere weg und mit den sinkenden Immobilienpreisen war auch die Sicherheit dieser Papiere dahin, ihre Kurse stürzten ab. Dies zwang die Banken und Fonds, die diese Papiere gekauft hatten, zu immer neuen „Wertberichtigungen“ in ihren Bilanzen, die wahrscheinlich noch nicht zu Ende sind.

 

 

Besonderheiten der gegenwärtigen Krise

Die bislang beschriebenen Phänomene stellen in der Geschichte des Kapitalismus noch nichts Außergewöhnliches dar. Eine besondere Note erhält diese Krise allerdings durch die Rolle, die die Banken in ihr spielen. Bei Krisen des Aktienmarktes sind die Verlierer häufig die vielen Kleinanleger, die ihre Spargroschen in Aktien anlegten und nach einem Crash nur noch wertloses Papier in Händen halten oder sogar verschuldet sind, weil sie ihre Aktienkäufe per Kredit finanzierten. Bei der Immobilienkrise in den USA sind die Geschädigten in erster Linie die Banken und die spekulativ orientierten Hedge-Fonds, die den Banken die Immobilienkredite (bzw. die mit diesen Krediten besicherten Wertpapiere) abkauften. Zwar haben auch viele der zahlungsunfähig gewordenen Immobilienkäufer nach dem Zwangsverkauf ihrer Häuser ihre Ersparnisse verloren, die sie in den Hauskauf steckten. Aber zumindest hatte ihnen die lockere Kreditvergabe der Banken über Jahre hinweg ein höheres Konsumniveau ermöglicht. Nicht die Kleinsparer steckten dieses Mal ihr geringes Kapital in windige Aktien, sondern Banken finanzierten den Kauf überteuerter Immobilien und nicht selten auch noch darüber hinausgehende Konsumausgaben.

Der Umfang der Verluste, die die einzelnen Banken tragen müssen (nicht nur die US-amerikanischen, sondern auch z.B. öffentliche wie private deutsche Banken, die sich an den scheinbar sicheren Spekulationsgeschäften beteiligten), ist allerdings nicht klar. Nicht nur weil die Banken ihre Verluste ungern publik machen, häufig kennen sie diese selbst nicht einmal so genau. Beim Kauf der mit Immobilienkrediten besicherten Wertpapiere haben sie sich blind auf das Urteil der sogenannten „Rating-Agenturen“ verlassen. Deren „AAA“-Bewertung für höchste Qualität wurde aber von jenen Banken bezahlt, die die Wertpapiere ausgegeben haben, was für die Objektivität des Urteils nicht unbedingt hilfreich gewesen sein dürfte. Da nun niemand genau weiß, welche Bank wie viele faule Kredite hat oder vielleicht sogar schon kurz vor der Pleite steht, ist das Misstrauen zwischen den Banken gewachsen und hatte im letzten Jahr den Interbankenhandel schon einmal fast zum Erliegen gebracht. Beim Interbankenhandel gewähren sich die Banken, ohne alle Formalitäten, gegenseitig kurzfristige Kredite und sorgen so dafür, dass die Geschäfte reibungslos laufen können. Muss man jedoch damit rechnen, dass die andere Bank am nächsten Tag bankrott ist, wird auch der typische „über Nacht“-Kredit zum Risiko. Nur weil die Zentralbanken mit einer schnellen Ausweitung der von ihnen vergebenen Kredite reagierten, konnten größere Probleme bis jetzt verhindert werden.

 

 

Verschiebungen innerhalb des Kapitalismus

Die enormen Verluste, von denen bislang die Rede ist – Ende April hatten die Banken ca. 270 Milliarden Dollar abgeschrieben, insgesamt könnten es aber auch 400-500 Milliarden werden – sind auch Ausdruck der Strukturveränderungen, die in den letzten 30 Jahren im globalen Kapitalismus stattgefunden haben: seit der Weltwirtschaftskrise von 1974/75 haben sich im Gefolge der daraufhin einsetzenden neoliberalen Politik die Verteilungsverhältnisse in den führenden kapitalistischen Ländern erheblich zugunsten des Kapitals und der Bezieher höherer Einkommen verschoben. Die Reallöhne sind seither nur wenig gestiegen, der Zuwachs an gesellschaftlichem Reichtum kam fast ausschließlich denen zu gute, die schon über hohe Einkommen und Vermögen verfügten. Ein großer Teil dieser Einkommenszuwächse sowie Teile der steigenden Unternehmensprofite wurden in den Finanzmärkten investiert, die seit ihrer weitgehenden Deregulierung in den 1970er und 1980er Jahren mit immer neuen Arten von spekulativen Papieren (den sogenannten „Derivaten“) sehr erfolgreich um Anleger warben.

Auch die vielfachen „Rentenreformen“, die alle zu Lasten der staatlichen Rentenversicherungssysteme gingen, haben dazu geführt, dass viele ArbeitnehmerInnen versuchen, ihre künftigen Rentenzahlungen über „Pensionsfonds“ aufzubessern, so dass auch die Bezieher kleinerer Einkommen indirekt in den Finanzmärkten investieren. Als Folge dieser Entwicklungen ist der Umfang des Finanzvermögens in den letzten Jahrzehnten weit stärker gewachsen als das Sozialprodukt. Und für dieses enorm gewachsene Finanzvermögen wird ständig nach möglichst profitablen Anlagemöglichkeiten gesucht, was die Spekulation enorm ankurbelt.

Allerdings stellen die oben genannten Verluste nur einen kleinen Bruchteil des internationalen Finanzvermögens dar, das sich auf ca. 150.000 Milliarden Dollar beläuft. Die bisherigen, weltweit angefallenen Verluste von ca. 270 Milliarden Dollar liegen in der Größenordnung des jährlichen Haushaltsdefizits der USA, sie sind vom Weltfinanzsystem durchaus zu verkraften. Es kann aber gut sein, dass noch die eine oder andere Großbank in ähnliche Schwierigkeiten kommt wie die fünftgrößte US-amerikanische Bank Bear Stearns, deren Pleite nur abgewendet werden konnte, indem sie unter Vermittlung der US-amerikanischen Zentralbank zu einem Spottpreis von J.P. Morgan Chase, der zweitgrößten amerikanischen Bank, übernommen wurde.

 

 

Neue Zentren der Kapitalakkumulation

Als Konsequenz der Finanzkrise hat in den USA wohl schon eine Rezession eingesetzt (auch wenn dies offiziell noch nicht zugegeben wird). Die Banken haben die Kreditvergabe eingeschränkt und die privaten Verbraucher, die gerade ihre Häuser verloren haben, können ebenfalls nicht mehr so viel konsumieren wie früher. Bei dem starken Gewicht, den der Binnenmarkt für die US-amerikanische Ökonomie hat, dürfte ein konjunktureller Abschwung unausweichlich sein, auch wenn der schwache Dollar die amerikanischen Exporte auf dem Weltmarkt konkurrenzfähiger macht. Bemerkenswert ist aber, dass dieser Abschwung bislang relativ geringe Auswirkungen auf die Weltwirtschaft hatte. Zwar werden die Wachstumsprognosen auch in Europa und insbesondere in Deutschland nach unten korrigiert, doch war nach dem „Aufschwung“ der letzten Jahre sowieso mit einem konjunkturellen Abschwung zu rechnen. Zwar sind die USA noch immer die bei weitem stärkste Wirtschaftsmacht, doch sind mit den Schwellenländern Asiens und z.T. auch Lateinamerikas neue Zentren kapitalistischer Akkumulation entstanden, die nicht mehr nur einfach „Peripherie“ einer von Westeuropa und Nordamerika bestimmten Weltwirtschaft sind. Sie können die Nachfrageausfälle der USA zumindest zu einem Teil ersetzen. Dass indische Unternehmen mit spektakulären Übernahmen (Jaguar wurde von Tata Motors gekauft, der größte europäische Stahlkonzern Arcelor von Mittal Steel) von sich reden machen oder dass die chinesische Zentralbank über riesige Devisenreserven verfügt, deren Gesamtwert weit über einer 1.000 Milliarden Dollar liegt, sind nur sinnfälliger Ausdruck dieser Entwicklung. Der globale Konkurrenzkapitalismus wird immer stärker multipolar, was mit einem relativen ökonomischen Bedeutungsverlust der USA einhergeht (vgl. dazu „Profit ohne Ende. Der Kapitalismus hat erst angefangen“, in: Jungle World 28, 12. Juli 2007).

 

 

Neue Formen der Regulierung – und neue Krisen

Die gegenwärtige Krise zeigt aber noch etwas anderes an. Vor gut 30 Jahren endete das Zeitalter des Keynesianismus: eine auf „deficit spending“ reduzierte keynesianische Wirtschaftspolitik wurde durch neoliberale Konzepte ersetzt, die davon ausgingen, dass „die Märkte“ die besten und effizientesten wirtschaftlichen Regulationsinstanzen seien. Seit den 1980er Jahren wurde weltweit dereguliert, flexibilisiert und privatisiert, was das Zeug hielt. Die Finanzmärkte kommen heute dem neoliberalen Ideal des freien und flexiblen Marktes am nächsten: staatliche Reglementierungen wurden radikal beschnitten und aufgrund der Natur des gehandelten Gegenstands sind Zeitverzögerungen und Transaktionskosten minimal, „Marktimpulse“ können sich also ungehindert durchsetzen. Aber gerade diese deregulierten Finanzmärkte haben sich als extrem instabil und krisenhaft erwiesen. Selbst Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank, musste kürzlich zugeben, dass er nicht mehr an die so oft beschworenen „Selbstheilungskräfte des Marktes“ glaube. Und auch der Internationale Währungsfonds, der bislang jedes sogenannte Entwicklungsland, das einen Kredit benötigte, zu „mehr Markt“ (auch und gerade im Bankensektor) verpflichtete, entdeckte angesichts der Finanzkrise, dass die internationale Finanzarchitektur „dramatische Mängel“ aufweisen würde und mehr staatliche Kontrolle und Regulierung notwendig sei. Ob diese Regulierung demnächst tatsächlich kommt, ist allerdings ungewiss: Ackermann wollte sein Kritik am Markt nicht als Plädoyer für mehr Staat verstanden haben. Stattdessen präsentierte er einen freiwilligen Verhaltenskodex, an den sich Geldinstitute künftig halten sollen. Auch die vom IWF diskutierten Vorschläge blieben außerordentlich vage. Es ist gut möglich, dass es erst noch einer weiteren Krise bedarf, bevor eine neue Welle der Regulierung beginnt. Die Periode naiver Markteuphorie scheint jedoch fürs erste vorbei zu sein.

Aber auch wenn eine solche neue Regulierung der Finanzmärkte kommt, wird sie den Kapitalismus nicht krisenfrei machen. Bei der Analyse des Kapitalismus ist zwischen institutionellen Arrangements, die Krisen begünstigen, und den grundsätzlichen Krisentendenzen des Kapitalismus, die in den widersprüchlichen Bestimmungen kapitalistischer Produktion auf der einen Seite und kapitalistischer Zirkulation auf der anderen Seite gründen, zu unterscheiden. Institutionelle Arrangements können geändert werden und es sind in der Regel Krisen, die solche Änderungen herbeiführen. Dass der Zweck kapitalistischer Produktion Profitmaximierung ist und dass diese zu Teilen stets durch spekulative Prozesse vermittelt ist, lässt sich jedoch nicht ändern, jedenfalls nicht ohne den Kapitalismus abzuschaffen.

Auch deuten sich bereits neue Krisenprozesse an. Der enorm gestiegene Verbrauch führte in den letzten Jahren zu steigenden Rohstoffpreisen und aktuell auch zu steigenden Nahrungsmittelpreisen. Bei schnell steigenden Preisen und der Erwartung weiter steigender Preise werden auch spekulative Investitionen zunehmen, bei dem der Gegenstand nur erworben wird, um ihn bald darauf zu einem höheren Preis zu verkaufen. Schon jetzt wird vermutet, dass ein Teil des Preisanstiegs für Erdöl und Weizen auf spekulative Terminkontrakte zurückgeht, so dass hier eventuell die nächsten spekulativen Blasen entstehen.

Bereits jetzt schon haben die steigenden Lebensmittelpreise erhebliche ökonomische Auswirkungen: in Indien und vor allem in China heizen sie die dort sowieso schon hohe Inflationsrate an. Es ist nicht auszuschließen, dass die chinesische Zentralbank irgendwann mit einer starken Zinserhöhung bzw. einer Verknappung der Geldmenge versuchen wird, gegenzusteuern und damit das bislang noch außerordentlich hohe Wachstumstempo mit jährlichen Raten von 8-9 Prozent abwürgt. Dann würde sich die Kehrseite der neuen multipolaren Struktur des globalen Kapitalismus zeigen: eine Wirtschaftskrise in China wäre nicht nur ein chinesisches Problem, sie wäre ein Problem der gesamten kapitalistischen Weltwirtschaft. Auch ohne den befürchteten Zusammenbruch des Finanzsystems sind die Aussichten im globalen Konkurrenzkapitalismus alles andere als rosig.