Michael Heinrich

Über „Praxeologie“, „Ableitungen aus dem Begriff“ und die Lektüre von Texten

Zu Wolfgang Fritz Haugs Antwort auf meinen Beitrag in Argument 251[1]

In: Das Argument 254, 46. Jg., Heft 1, 2004, S. 92 – 101

 

I. Diskussionsstile

Bei der Lektüre dieser Antwort konnte ich mich einer gewissen Überraschung nicht erwehren. Haug benötigt gerade mal eine Druckseite (424), um gleich zu Beginn seines Beitrags meine charakterlichen und politischen Defizite genau zu bestimmen: Ein „Mangel an Selbstrelativierung“, weil ich das „Verlangen“ hätte, dem Marxismus „eines auszuwischen“ (steht wirklich so da!); „Selbstüberschätzung“, die durch meine Kritik an Marx „bezeugt“ wird (belegt durch einen Halbsatz aus meinem Buch Die Wissenschaft vom Wert, aus dem sich den Lesern mein Argument allerdings kaum erschließen dürfte), und schließlich wird die Gefahr der Bildung einer „Sekte“ und der „Praxisferne“ beschworen, die mit „Heinrichs Programmbegriff der ‘monetären Werttheorie’“ verbunden sei. Zum Wort „monetär“ wird in diesem Zusammenhang gleich noch angemerkt, es sei nur durch die „Geltungsmacht des herrschenden Monetarismus aus dem Englischen ins Deutsche eingedrungen“. Diese etymologische Behauptung (deren Richtigkeit ich nicht beurteilen kann), hat zwar keinerlei inhaltliche Beziehung zur Diskussion über das mit der „monetären Werttheorie“ Gemeinte, aber als kleine Anschwärzung des Kontrahenten macht sie sich schon mal ganz gut: da nimmt ja einer ein Wort in den Mund, das durch den Monetarismus eingeführt wurde. Ich will die Auseinandersetzung weder auf einer solchen Ebene aufnehmen, noch will ich darüber spekulieren, von welchen Verunsicherungen die haugschen Tiraden ausgelöst wurden. Über all das mögen die Leser selbst urteilen. Auf einen gleich mehrfach gemachten Vorwurf muss ich allerdings eingehen, da er sich einer Beurteilung durch die Leser entzieht. Haug wirft mir vor, ich würde in meinem Artikel „den zur Diskussion gestellten Text“ (seinen im selben Heft erschienenen Beitrag Historisches/Logisches) „kaum oberflächlich streifen“ (424) und zu meinen Ausführungen über Geld, Kapital und Kredit schreibt Haug, dass „deren durch Marxzitate beglaubigte Ausbreitung entbehrlich und – Heinrich verüble mir nicht, dass ich ihm das unschöne Wort zurückreiche – ausnehmend banal ist, weil nichts zur Frage nach dem Verhältnis von Historischem und Logischem beitragend“ (426).

Der unbefangene Leser muss den Eindruck haben, ich wäre um einen Beitrag zu Haugs Text gebeten worden, hätte dann aber lediglich am Rande darüber geschrieben und stattdessen über Kapital und Kredit. Nur entspricht dieser von Haug erweckte Eindruck nicht den Tatsachen. Anfang 2003 wurde ich von der Argument-Redaktion um einen Beitrag über die marxsche Geld- und Kredittheorie als Grundlage der Analyse gegenwärtiger Finanzmärkte gebeten. Einige Monate später wurde mir der haugsche Artikel Historisches/Logisches mit der Bitte zugesandt, falls es eine Schnittmenge zu meinem Thema gäbe, auch auf diesen Text einzugehen. Mein Thema war also immer noch Geld und Kredit und keineswegs der haugsche Artikel. Gegen einen Diskussionsbeitrag zu diesem Artikel hätte ich nichts einzuwenden gehabt, da ich ihn nicht nur hinsichtlich der in meinem Aufsatz angesprochenen Punkte für äußerst problematisch halte. Nur war dies, wie gesagt, nicht das mit der Redaktion vereinbarte Thema.

 

II. Monetäre Werttheorie

Nun aber zu den Inhalten. Die von Haug aufgestellten Behauptungen sowohl über meine als auch über marxsche Aussagen werden häufig durch das Zitieren einzelner Halbsätze begründet, die in – gelinde gesagt – problematischer Weise montiert werden. Eine vollständige Antwort würde zunächst eine Reihe von Klarstellungen erfordern, die den Umfang dieses Beitrags sprengen würden. Ich werde mich deshalb auf wenige Einzelpunkte beschränken. Wie die haugsche Montagetechnik funktioniert, werde ich im übernächsten Abschnitt demonstrieren.

Aber zunächst eine Bemerkung zur „monetären Werttheorie“. Haug wirft die Frage auf, warum man denn überhaupt den Akzent auf „monetär“ legen sollte, statt von einer „wertformanalytischen Geldtheorie“ zu sprechen (425). Sofern mit letzterem zum Ausdruck gebracht werden soll, dass sich die marxsche Geldtheorie einer wertformanalytischen Grundlage verdankt, ist nichts einzuwenden. Mit der Bezeichnung monetäre Werttheorie wird eine solche nicht bestritten, sondern darüber hinaus betont, dass Wert erst im Hinblick auf Geld verstanden werden kann, sich nicht substanzialistisch an einer einzelnen Ware festmachen lässt, sondern nur als Geltungsverhältnis, das in der Beziehung der Waren aufeinander existiert. Und diese Beziehung ist erst einheitlich und allgemein ausgedrückt als Beziehung der Waren auf Geld. Anders ausgedrückt: die marxsche Werttheorie ist ganz wesentlich Kritik prämonetärer Werttheorien, d.h. Kritik von Theorien, die meinen, Wert sei bereits durch die Benennung einer Wertsubstanz bestimmt, sei dies nun Arbeit oder Nutzen. Dieser letzte Punkt wurde vor allem von Backhaus in den 70er Jahren herausgearbeitet. Welche Konsequenzen sich daraus ergeben, kann ich hier nicht im Einzelnen entwickeln, ich muss den Leser auf das sechste (in der ersten Auflage das fünfte) Kapitel von Die Wissenschaft vom Wert verweisen.

 

III. Haug ein Kritiker von Engels?

Bei der Frage des Zusammenhangs der Kategorien, die unter dem Label Logisches und Historisches diskutiert wird, sieht Haug zwei Positionen einander gegenüber stehen: diejenige der „logizistischen Marx-Interpretationen“, die sich am „begriffslogischen Paradigma Hegels“ „festklammern“ würden (426) und die Position von Engels, die er in seiner Antwort allerdings nicht weiter spezifiziert. Für sich selbst reklamiert er eine „dritte Position“ (427), die er als von der engelsschen verschiedene auffasst, denn mir wirft er vor, dass ich ihn sogleich in die „engelssche Schublade“ stecken würde.

Dass Haug eine von Engels abweichende Position beansprucht, kommt für mich (und wahrscheinlich auch für eine ganze Generation seiner Schüler) in der Tat einigermaßen überraschend. Mir ist in den bisherigen Veröffentlichungen Haugs keine derartige Abgrenzung aufgefallen. Stattdessen findet man eine Reihe von Äußerungen, die darauf schließen lassen, dass er die engelssche Auffassung teilt. So wird in den zuletzt 1989 unverändert aufgelegten Vorlesungen zur Einführung ins ‘Kapital’ bei der Frage des Logischen und Historischen nicht nur zustimmend auf den Aufsatz von Holzkamp (1974) verwiesen, der ja gerade die engelssche Position verteidigt (Haug 1974, 150). Haug selbst spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die „wirklichen historischen Entwicklungen“ Resultat heterogener Wirkungen seien, es bei der Wertformanalyse aber darum gehe, das „Entwicklungsgesetz der Wertform in laboratoriumshafter Reinkultur“ herauszupräparieren, und zieht daraus den Schluss: „Daher konnte Engels auch sagen, dass das Logische nur das von Zufälligkeiten gereinigte Historische sei“ (ebd., 151). Dies alles lässt in Haug nicht gerade einen Kritiker von Engels vermuten. Auch im Stichwort Genesis des 2001 erschienenen Band 5 des HKWM ist nicht die geringste Kritik an Engels zu erkennen. Erst im Entwurf zum Stichwort Historisches/Logisches findet sich eine verhaltene Kritik. Nachdem längere Passagen der engelsschen Rezension von Zur Kritik zitiert wurden, heißt es: „Eingängig formuliert, ist keine einzige dieser Bestimmungen unproblematisch; doch keine ist einfach von der Hand zu weisen“ (Haug 2003, 383). Sollte der Leser allerdings die Erwartung haben, er könnte nun erfahren, was Haug an den engelsschen Bestimmungen problematisch findet, dann wird er enttäuscht: Kurz nach dieser Äußerung beginnt er mit einem neuen Punkt.

Haug mag das, was er früher einmal vertreten hat, heute anders sehen. Allerdings fällt es ihm offenbar schwer, einen solchen Lernprozess zuzugeben; er sieht in ihm wohl eher eine Schwäche. Nicht anders kann ich es mir erklären, dass er mehrfach geradezu triumphierend auf Veränderungen in der zweiten Auflage meines Buches verweist, mit denen Aussagen der ersten Auflage eingeschränkt oder präzisiert werden.

Allein die Tatsache, dass Haug sich im Unterschied zu seinen früheren Veröffentlichungen um eine von Engels unterschiedene Position bemüht, ist keineswegs kritikwürdig. Problematisch ist allerdings die Charakterisierung seiner „dritten“ von Engels abweichenden Position. Haugs „Vorschlag“ besteht darin, die Rede von der logischen Methode sein zu lassen und „sich näher an Marx methodischem Selbstverständnis und in letzter Instanz an seiner wirklichen Forschungs- und Darstellungsweise zu orientieren sowie alle Energie daran zu wenden, diese geschichtsmaterialistisch konsistent zu rekonstruieren“ (426). Dieser schöne Vorschlag, sich an Marx eigener Forschungs- und Darstellungsweise zu orientieren, ist allerdings ein alter Gemeinplatz, der nicht nur in den Debatten über eine „Rekonstruktion der Kritik der politischen Ökonomie“ in den 70er Jahren immer wieder geäußert wurde, schon Henryk Grossmann leitete 1929 sein Buch über das „Zusammenbruchsgesetz“ mit der Klage ein, dass man sich über Marx Forschungsmethode bisher zu wenig Gedanken gemacht habe (Grossmann 1929, V). Ganz unterschiedlich beantwortet wurde allerdings die Frage, wie diese Orientierung an der marxschen Methode denn aussehen soll. Haug stellt sich die richtige Weise folgendermaßen vor: „Die Kriterien, nach denen dies einzig geschehen kann, verlangen den Rekurs auf menschliches Verhalten in bestimmten Verhältnissen und in asymmetrischer Wechselwirkung mit diesen.“ (426)

Auf die Probleme, die der „Rekurs auf menschliches Verhalten“ aufwirft, werde ich im letzten Teil zu sprechen kommen. Hier geht es zunächst um etwas anderes. Stellt dieser „Rekurs auf menschliches Verhalten“ tatsächlich einen Unterschied zu Engels dar, begründet er wirklich eine „dritte Position“? Der haugsche Vorschlag ist dermaßen allgemein, dass ihn wohl nicht nur Engels akzeptieren würde, auch ein Neoklassiker kann den „Rekurs auf menschliches Verhalten in bestimmten Verhältnissen und in asymmetrischer Wechselwirkung mit diesen“ ohne Probleme in Anspruch nehmen.

Nicht viel besser wird es, wenn Haug dann auf der nächsten Seite zurückweist, dass es seine genetische Rekonstruktion mit modellhafter Darstellung der Geschichte zu tun habe: „Aber nein! Es geht bei genetischer Rekonstruktion nicht um ‘Darstellung der Geschichte’’, auch nicht in ‘modellhafter’’ Form. Sondern es geht, wie das Wort Genesis besagt, um die Untersuchung eines Entstehungszusammenhangs und eines Werdens.“ (428) Diese Zurückweisung verwundert, hatte Haug doch in Historisches/Logisches sich selbst zitierend geschrieben: „Das Genetische kann aber in der Tat als das modellhaft begriffene Historische gleichsam ‘in laboratoriumshafter Reinkultur’ (Haug 1974/76, 151) verstanden werden.“ (Haug 2003, 384) Wie nun? Das Genetische ist zwar auf keinen Fall „modellhafte Darstellung von Geschichte“, aber es ist „modellhaft begriffenes Historisches“? Und außerdem soll sich dieses „modellhaft begriffene Historische“, auch noch von dem unterscheiden, was Engels als „das Spiegelbild, in abstrakter und theoretisch konsequenter Form, des historischen Verlaufs“ bezeichnet (MEW 13/475), denn Haug beansprucht für sich ja eine „dritte Position“?

Mir scheint, dass Haug an seiner „dritten Position“ noch etwas arbeiten muss. Sollte Haug die Unterschiede zu Engels eines Tages nicht nur behaupten, sondern auch deutlich machen, dann werde ich ihn auch ganz bestimmt nicht mehr in die „engelssche Schublade“ stecken.

 

IV. „Ableitung aus dem Begriff“ oder doch eine sorgfältigere Textlektüre?

Ausführlicher als mit seiner eigenen „dritten“, beschäftigt sich Haug mit meiner Position, die er, wie es seine Überschrift II nahe legt, als „Ableitung aus dem Begriff“ auffasst. Dabei kommt seine oben erwähnte Zitatmontagetechnik voll zum Tragen. Haug stellt die Frage, was ich wohl als „Begründung“ gelten lasse und schreibt dann über mich:

„Das dunkle Objekt der Begierde sucht er hinter einem Satz aus der – von ihm noch nicht so populär verfälscht gehaltenen (siehe weiter unten) Erstauflage des Kapital, wo Marx sagt, er wolle ‘beweisen, dass die Werthform aus dem Werthbegriff entspringt’ (MEGA II.5/43) – eine Formulierung, in der es allerdings unerlaubt hegelt. Marx gießt Hohn und Spott aus über diejenigen, ,die vom ‚Begriff‘ Wert, nicht von dem sozialen Ding‘, der ‚Ware‘, ausgehen, und diesen Begriff sich in sich selbst spalten (verdoppeln) lassen‘ (MEW 19/374f). In geschichtsmaterialistischer Sicht ist die ‘Begriffsanknüpfungsmethode‘, wie Marx schimpft, als sie ihm zugeschrieben wurde (MEW 19/371), nicht zulässig. Laut Heinrich, der in eben solcher Selbstverdopplung den wahren Jakob sieht, ‘verschleiert’ Marx solches Entspringenlassen aus dem Begriff in der überarbeiteten Fassung von Kapital I, weil er dort beansprucht, durch Analyse der Wertform die ‘Genesis der Geldform’ zu rekonstruieren (1991, S. 185, Fn. 54).“ (427f)

Haug stellt hier drei Behauptungen auf, die er anscheinend durch Zitate belegt:

1. Wir finden in der Erstauflage des Kapital von 1867 manche Stellen, an denen es „unerlaubt hegelt“ (wo also Marx selbst so etwas wie eine „Ableitung aus dem Begriff“ unternimmt, über alles Nähere schweigt sich Haug dabei allerdings aus).

2. In diesen Stellen, besonders der von Haug zitierten, würde ich den „wahren Jakob“ sehen. Es wird einerseits unterstellt, dass es auch bei mir „unerlaubt hegelt“ und dass ich andererseits den von Haug angeführten Satz aus der Erstauflage als Begründung meiner Verfahrensweise, der „Ableitung aus dem Begriff“ betrachten würde. Verwiesen wird dabei nur auf eine Fußnote in meinem Buch, die sich im übrigen nicht nur in der von Haug zitierten ersten Auflage findet, sondern auch in der zweiten, dort S.230.

3. Mit den beiden nächsten Marx-Zitaten (die aus den um 1880 entstandenen Randglossen zu Wagner stammen) legt Haug eine implizite Selbstkritik von Marx nahe: Marx gießt Hohn und Spott aus über eine Argumentationsweise, deren er sich selbst – nach Haug – 1867 auch noch stellenweise bedient habe.

Bei genauerer Betrachtung der angeführten Texte, wird man allerdings feststellen, dass alle drei von Haug aufgestellten Behauptungen sich nicht belegen lassen.

1. Betrachtet man den von Haug zitierten Satzfetzen „beweisen, dass die Werthform aus dem Werthbegriff entspringt“ isoliert, dann müsste man in Marx in der Tat einen Vertreter des Deutschen Idealismus vermuten. Anders sieht es aus, wenn man den gesamten Satz in seinem Kontext betrachtet:

„Man sieht: die Analyse der Waare ergiebt alle wesentlichen Bestimmungen der Werthform und die Werthform selbst in ihren gegensätzlichen Momenten... Das entscheidend Wichtige aber war den inneren nothwendigen Zusammenhang zwischen Werthform, Werthsubstanz und Werthgrösse zu entdecken, d.h. ideell ausgedrückt, zu beweisen, dass die Werthform aus dem Werthbegriff entspringt.“ (MEGA II.5/43)

Hat man die vollständige Passage vor sich, wird man kaum auf die Idee kommen, Marx habe hier etwas aus dem Begriff entspringen lassen. Haug ist nicht der erste, der Marx vorwirft, dass es „unerlaubt hegelt“. Bereits im Nachwort zur 2. Auflage von Kapital I schreibt Marx: „Die deutschen Rezensenten schreien natürlich über Hegelsche Sophistik“ (MEW 23/25). Daraufhin macht er die wohlbekannten Bemerkungen, dass seine (Marxens) dialektische Methode das direkte Gegenteil der Hegelschen Methode sei, räumte aber auch ein: „Ich ... kokettierte sogar hier und da im Kapitel über die Werttheorie mit der ihm [Hegel, M.H.] eigentümlichen Ausdrucksweise.“ (MEW 23/27). Und genau darum handelt es sich bei der von Haug zitierten Passage. Nachdem Marx die Wertformanalyse entwickelt hatte, fasst er zusammen, was ihm an ihr wichtig ist (den notwendigen Zusammenhang zwischen Wertform, Wertsubstanz und Wertgröße zu entdecken), und erst danach formuliert er das Entdeckte in hegelschen Termini und betont dies auch noch, indem er schreibt „d.h. ideell ausgedrückt...“, was natürlich nichts nutzt, wenn es, wie bei Haug, einfach weggelassen wird. Von einem „unerlaubten Hegeln“ kann also keine Rede sein.

2. Dass wir bei Marx eine „Ableitung aus dem Begriff“ oder ähnliches finden, habe ich nirgendwo behauptet, auch nicht in der von Haug angeführten Fußnote. Dort wird lediglich der von Haug als Beleg marxscher Hegelei betrachtete Satz zitiert – im Unterschied zu Haug allerdings vollständig. Und wie der Leser, wenn er in meinem Buch nachschlägt, unschwer feststellen kann, war das, worauf es mir ankam, keineswegs das „ideell ausgedrückte“ (nach Haug das angebliche Objekt meiner Begierde), sondern die von Marx gegebene Zusammenfassung, dass die Wertformanalyse den Zusammenhang von Wertform, Wertsubstanz und Wertgröße entwickeln soll. Diese Formulierung habe ich betont, weil sie deutlich macht, dass es nicht um eine historische Entwicklung geht, sondern um den Zusammenhang der verschiedenen Bestimmungen der existierenden Ware.[2]

3. Wenn es bei Marx 1867 nicht „unerlaubt hegelt“, dann hat er auch 1880 keinen Grund zu der von Haug suggerierten impliziten Selbstkritik. In den Randglossen geht es auch überhaupt nicht um irgendwelche Hegeleien, auch nicht darum, dass man Marx eine solche Hegelei vorgeworfen hätte. Vielmehr kritisiert Marx einige Vertreter der deutschen Vulgärökonomie. Deren Reflexionsniveau liegt aber meilenweit unter dem der hegelschen Philosophie. Die Begriffsverdopplung, über die Marx an der von Haug angeführten Stelle spottet, besteht einfach darin, dass jene Vulgärökonomen, den „Wertbegriff im allgemeinen“ sich in Gebrauchswert und Tauschwert spalten (verdoppeln) lassen. Die Kritik solcher Dämlichkeiten lässt sich wohl kaum mit der Kritik an „Hegeleien“ auf eine Stufe zu stellen. Wie oberflächlich Haug die Randglossen anscheinend gelesen hat, zeigt sich auch an seiner Behauptung, Marx würde die ihm zugeschriebene „Begriffsanknüpfungsmethode“ zurückweisen. Schaut man in den Text, dann wird deutlich, dass nicht Marx ein solcher Vorwurf gemacht wird. Es ist vielmehr Marx, der das Wort zur Charakterisierung der deutschen Vulgärökonomen ins Spiel bringt und von der „professoraldeutschen Begriffsanknüpfungs-Methode“ spricht (MEW 19/371).

 

V. Naturgrundlagen und gesellschaftliche Bestimmungen

Als weiteren Punkt wirft mir Haug vor, ich könne nicht „zwischen dem Aufweis von Naturgrundlagen des Sozialen und dessen Naturalisierung“ unterscheiden (434). Ich hatte die marxsche Rede von abstrakter, wertbildender Arbeit als Arbeit „im physiologischen Sinne“ (23/61) als Naturalismus, als Reduktion einer gesellschaftlichen Kategorie auf ein naturales Substrat kritisiert (Heinrich 1999, 206ff). Haug ist anscheinend der Auffassung, dass die im Tausch erfolgende Reduktion der verschiedenen konkreten Arbeiten auf gleiche menschliche Arbeit genau auf einem solchen naturalen Substrat beruht. Er schreibt, es sei „die Naturgrundlage aller Arbeitstätigkeiten, die das Reale des Reduktionsakts ausmacht“ (434). Haug verwechselt hier Denkabstraktion und Realabstraktion. Wenn ich die verschiedenen menschlichen Arbeiten (oder allgemeiner Lebenstätigkeiten) betrachte, dann kann ich feststellen, dass sie eine gemeinsame Naturgrundlage haben, sie sind Verausgabung von Muskel, Nerv und Hirn. Insofern kann ich als eine Denkabstraktion formulieren, alle Arbeit hat eine Naturgrundlage, ist Arbeit in physiologischem Sinn. Doch geht es bei abstrakter Arbeit um eine solche Denkabstraktion? Bei Marx in der Regel jedenfalls nicht.[3] Er hält ja gerade fest, dass, wenn die Menschen ihre Produkte im Austausch als Werte gleichsetzen, sie die verschiedenen Arbeiten einander gleichsetzen, aber ohne dies zu wissen. „Sie wissen das nicht, aber sie tun es“ (MEW 23/88). D.h. die Abstraktion von der Verschiedenheit der konkreten Arbeiten ist kein bewusster Denkvorgang, sondern Resultat des Handelns der Menschen, es handelt sich bei abstrakter Arbeit nicht um eine Denkabstraktion, sondern um eine Realabstraktion (ausführlicher zu dieser Unterscheidung: Heinrich 2004, Kapitel 3.3). Dass jede Arbeitstätigkeit Naturgrundlagen hat, ist genauso richtig, wie dass jeder Mensch atmen muss. Nur sagt weder das eine noch das andere etwas über spezifische gesellschaftliche Verhältnisse aus.

In der Wissenschaft vom Wert hatte ich betont, dass abstrakte Arbeit insofern sie ein gesellschaftliches Verhältnis darstellt, überhaupt nicht verausgabt werden kann, was eine fundamentale Kritik an substanzialistischen Wertauffassungen impliziert, die Wert an der für die Produktion einer einzelnen Ware aufgewendeten Durchschnittsarbeitszeit festmachen. Diese Aussage wird von Haug kritisiert, wenn auch nur stilistisch:

„Arbeit kann geleistet, jedoch überhaupt nicht verausgabt werden. Einzig Arbeitskraft, d.h. Arbeitsvermögen als potenzielle Arbeit, kann verausgabt (=verwirklicht) werden.“ (434)

Auch wenn es mich überrascht, dass verausgaben das selbe bedeuten soll wie verwirklichen, bin ich gerne bereit die stilistische Überlegenheit von Haug anzuerkennen, zumal ich mich mit meinem schlechten Stil in guter Gesellschaft befinde: Bei Marx wird ebenfalls nicht nur Arbeitskraft verausgabt, sondern auch Arbeit (z.B. MEW 23/59, 121, 208, 239), Arbeitszeit (z.B. MEW 23/117, 121, 122, 202f) oder ein Arbeitsquantum (MEW 23/542).

Wird abstrakte Arbeit nicht verausgabt/geleistet, dann, so meine Folgerung lässt sie sich auch nicht umstandslos durch die Dauer der Verausgabung der Arbeitskraft messen. Haug hält dagegen, dass ja nicht „umstandslos“ gemessen werde, sondern unter Durchschnittsbedingungen (435). Nur: das tut nichts zur Sache. Was bei der Durchschnittsbildung verglichen wird, sind verschiedene individuelle Verausgabungen der selben Art von konkreter Arbeit. Der langsame Bäcker wird mit dem schnellen Bäcker verglichen. Die Durchschnittsbildung liefert die durchschnittliche Menge konkreter Arbeit, die zur Produktion eines bestimmten Produkts (z.B. eines Brötchens) notwendig ist. Nur ist diese durchschnittlich notwendige Menge konkreter Arbeit eben nicht gleichzusetzen mit abstrakter Arbeit.

Dass ich abstrakte Arbeit als rein gesellschaftliches Geltungsverhältnis auffasse, das nur in der Warenproduktion existiert, mag man ja kontrovers diskutieren. Haug scheint dadurch aber so erschreckt zu sein, dass er gleich mit einem apodiktisch vorgetragenen materialistischen Glaubensbekenntnis reagiert: „Etwas Über- oder Außernatürliches kann es für Geschichtsmaterialisten nicht geben.“ (435) Das geht schon in Ordnung; nur fragt man sich, was ist mit einem solchen Bekenntnis gewonnen? Oder meint Haug etwa, das Übernatürliche fange bereits bei einem gesellschaftlichen Geltungsverhältnis an, wo der Stoff zum Anfassen fehlt?

 

VI. Die „Subjekte“ und ihre „Praxis“

Wie schon in Teil III angeführt, sieht Haug den Kern geschichtsmaterialistischen Vorgehens im „Rekurs auf menschliches Verhalten in bestimmten Verhältnissen und in asymmetrischer Wechselwirkung mit diesen“ (426). Dementsprechend beansprucht er auch für sich selbst, dass er z.B. die Wertformanalyse „in Gestalt einer handlungstheoretischen oder praxeologischen Rekonstruktion“ begründet (427). Mir dagegen wirft er die „Eliminierung der Subjekte und ihrer Praxis“ (Überschrift zu VI, S. 435) vor.

Da Gesellschaft menschliche Praxis ist, muss Gesellschaftsanalyse letztlich auf diese Praxis zurückgehen. Gesellschaft lässt sich nicht aus großen Ideen (des Gerechten, des Guten, des Menschen etc.) erklären. Gegenüber solchen Konzeptionen hat Haug mit seiner Betonung von Praxis durchaus recht. Doch damit ist noch kein Problem gelöst. Haugs Praxis- und Gesellschaftsbegriff, so scheint es mir jedenfalls, bleibt konzeptionell auf der Ebene der Feuerbachthesen und der Deutschen Ideologie stecken. Sein beständiger Rekurs auf Praxis ist im Grunde nichts anderes als eine Paraphrasierung der achten These über Feuerbach. Marx hatte sich 1845 gerade von den großen Ideen gelöst, zunächst von den idealistischen der Junghegelianer, dann auch von den abstrakt-materialistischen Feuerbachs. Gegen beider Abstraktionen war „Praxis“ sein Zauberwort, in der Deutschen Ideologie meinte er, man könne die wirklichen Voraussetzungen „auf rein empirischem Wege“ konstatieren (MEW 3/20). Alles scheint ihm einfach durchschaubar, wenn man nur auf „menschliche Praxis“ zurückgehe.

Zwanzig Jahre später, als er das Kapital verfasst, ist er jedoch ein ganzes Stück weiter. Einfach empirisch zu konstatieren, ist jetzt nichts mehr. Praxis ist auch nicht mehr das Zauberwort, das alles aufschließt. Daher finden sich bei Marx im Kapital auch keine Äußerungen, die mit der haugschen Aufforderung, doch alles „praxeologisch“ zu fassen, vergleichbar wären. Vielmehr ist sich Marx jetzt darüber im Klaren, das die Menschen in ihrer alltäglichen Praxis nicht wissen, was sie tun (MEW 23/88). Das, was sie wissen, und was ihre Praxis unmittelbar anleitet, entstammt einer „verzauberten, verkehrten und auf den Kopf gestellten Welt“ (MEW 25/838). Es entstammt all den Fetischformen, Mystifikationen und Verkehrungen, die Marx über alle drei Bände des Kapital hinweg dechiffriert und am Ende des dritten Bandes in der „trinitarischen Formel“ zusammenfasst. Solche Praxis ist aber kein Erklärungsgrund, sondern ein Gegenstand, der selbst der Erklärung bedarf: wie funktioniert eine Praxis, deren Subjekte nicht wissen, was sie tun, die also in ihrer Praxis etwas umsetzen, das sie nicht kennen?

Wenn es richtig ist, dass die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Praxis etwas umsetzen, das sie nicht kennen, dann muss zunächst das, was da umgesetzt wird, dargestellt und anschließend gezeigt werden, dass es die Menschen tatsächlich umsetzen müssen. Dementsprechend stellt Marx im ersten Kapitel von Kapital I die Formbestimmungen der Ware dar und erst im zweiten Kapitel die Handlungen der Warenbesitzer, die diesen Formbestimmungen folgen.[4] Marx selbst weist am Beginn des zweiten Kapitels auf diesen Ebenenwechsel der Darstellung hin:

„Die Waren können nicht selbst zu Markte gehen und sich nicht selbst austauschen. Wir müssen uns also nach ihren Hütern umsehen, den Warenbesitzern.“ (MEW 23/99)

Entgegen den „praxeologischen“ Annahmen von Haug spielten für Marx die Warenbesitzer im ersten Kapitel also noch keine tragende Rolle. Über den epistemologischen Unterschied von Wertformanalyse im ersten Kapitel und Analyse des Austauschprozesses im zweiten Kapitel scheint sich Haug nicht klar zu sein, beides fasst er „praxeologisch“ auf, ohne auch nur die Frage aufzuwerfen, warum Marx, nachdem er das Geld mittels Wertformanalyse „praxeologisch“ entwickelt hat, er es im Kapitel über den Austauschprozess nochmals „praxeologisch“ entwickelt.

Was Haug bei einer nicht-praxeologischen Auffassung des ersten Kapitels so große Schwierigkeiten bereitet, spricht er selbst in dem (nicht zustimmend, sondern kritisch gemeinten) Satz aus: „Es ist, als existierten die ‘Gesetze der Warenwelt’ in einer menschenleeren und praxislosen logischen Sphäre für sich“ (435). Haug hat insofern recht, als in der gesellschaftlichen Wirklichkeit die „Gesetze der Warenwelt“ keineswegs in einer „menschenleeren“ Sphäre existieren. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit sind diese Gesetze und die Handlungen der Menschen immer schon verbunden. Die Frage ist aber, wie wird diese Wirklichkeit in der gedanklichen Reproduktion dargestellt? Wie wird eine Wirklichkeit dargestellt, in der die Handlungen der Menschen von fetischistischen Formen strukturiert werden, die sie selbst nicht durchschauen? Die Beschwörung, dass doch alles Praxis sei, hilft da jedenfalls nicht weiter. Die marxsche Unterscheidung von Formbestimmungen und Handlungen schon eher.

 

Literatur

Birkner, Martin, „Der schmale Grat. Anmerkungen zu Geschichte und möglicher Zukunft zweier methodologischer Stränge der Marx-Interpretation am Beispiel von Michael Heinrichs ‘Die Wissenschaft vom Wert’“, in: grundrisse. zeitschrift für linke theorie & debatte, Nr. 1, 2002, 30-39

Grossmann, Henryk, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Leipzig 1929

Haug, Wolfgang Fritz, Vorlesungen zur Einführung ins „Kapital“, Köln 1974

ders., „Genesis“, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 5, Berlin 2001, 261-274

ders., „Historisches/Logisches“, in: Das Argument 251, 45. Jg., 2003, 378-396

Heinrich, Michael, Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition, 2. überarb. u. erw. Aufl., Münster 1999

ders., „Geld und Kredit in der Kritik der politischen Ökonomie“, in: Das Argument 251, 45. Jg., 2003, 397-409

ders., Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart 2004

Holzkamp, Klaus, Die historische Methode des wissenschaftlichen Sozialismus und ihre Verkennung durch J.Bischoff, in: Das Argument 84, 1974, 1-75

 



[1] Wolfgang Fritz Haug: Wachsende Zweifel an der Monetären Werttheorie. Antwort auf Michael Heinrich, Argument 251, S.424-437. Seitenangaben ohne weiteren Nachweis beziehen sich auf diesen Text.

[2] Dass Haug mich unter die Vertreter einer hegelmarxistischen oder „logizistischen“ Marx-Interpretation einreiht, für die unter anderem gelten soll „Jede Entfernung von Hegel erscheint in diesem Licht erstens als Popularisierung und zweitens als Niedergang“ (428), betrachte ich als so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit. In der Vergangenheit wurde mir häufig der gegenteilige Vorwurf gemacht, ich würde die Bedeutung der Hegelschen Philosophie für die Kritik der politischen Ökonomie negieren (z.B. Birkner 2002). Jene Kritiker haben immerhin zur Kenntnis genommen, dass ich in der Wissenschaft vom Wert an verschiedenen Stellen auf die Stufen der marxschen Hegelkritik eingehe. Dagegen hat Haug immerhin bemerkt, dass ich der hegelschen Philosophie für das Verständnis von Marx eine gewisse Bedeutung beimesse, wenn auch nicht diejenige, die mir von Haug unterstellt wird. Relevant für Marx scheint mir Hegel vor allem hinsichtlich seiner Problemstellungen zu sein (vgl. Heinrich 1999, 170ff).

[3] Dass sich bei Marx in dieser wie auch in einer Reihe weiterer Fragen Ambivalenzen finden (und solche Ambivalenzen sind wohl unvermeidlich, wenn man eine derartig weitreichende wissenschaftliche Revolution vollbringt), habe ich in der Wissenschaft vom Wert untersucht. Haug reagiert auf die Feststellung von Ambivalenzen bei Marx so wie es der Traditionsmarxismus stets gemacht hat, wenn auf Probleme bei Marx hingewiesen wurde: dem Betreffenden wird pauschal unterstellt, die „marxsche Dialektik“ nicht zu verstehen: „Wenn Heinrich ... diese Ambivalenzen expurgieren zu müssen glaubt, so ist es zuletzt die marxsche Dialektik, die seiner Säuberung zum Opfer fällt.“ (436). Dem sei entgegengehalten: Dialektik mag es zwar mit Widersprüchen zu tun haben, aber deswegen ist noch lange nicht jeder Widerspruch auch schon ein Ausdruck von Dialektik.

[4] Auch im vierten Kapitel ist vom Kapitalisten erst die Rede (MEW 23/167), nachdem die allgemeinen Formbestimmungen der Kapitalbewegung dargestellt wurden.