Ingo Elbe

Zwischen Marx, Marxismus und Marxismen-

Lesarten der Marxschen Theorie

 

I. Absicht der folgenden Bemerkungen ist es, eine grobe Übersicht über zentrale Lesarten der Marxschen Theorie zu geben. Diese sollen anhand einiger ausgewählter Themenbereiche als relativ klar voneinander abgrenzbare Marxismen dargestellt und in ihrer Wirkungsgeschichte bzw. -mächtigkeit hinsichtlich dessen, was im common sense unter ‚der’ Marxschen Theorie verstanden wird, eingeschätzt werden. 

 

Es wird dabei in ideologiekritischer Absicht eine Differenzierung zwischen der bislang vorherrschenden parteioffiziellen Marx-Deutung (dem traditionellen Marxismus, dem Marxismus im Singular, wenn man so will) und den dissidenten kritischen Formen der Marxrezeption (den Marxismen im Plural), mit ihrem jeweiligen Anspruch eines ‘Zurück zu Marx’, vorgenommen.

Ersterer wird verstanden als Produkt und Prozess einer restringierten und verzerrten Marx-Lektüre, z.T. ausgehend von den ‘exoterischen’ Schichten des Marxschen Werks, die traditionelle Paradigmen in Nationalökonomie, Geschichtstheorie und Philosophie fortschreiben und den Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise erliegen,  systematisiert und doktrinarisiert von Engels, Kautsky u.a., schließlich mündend in die Legitimationswissenschaft des Marxismus-Leninismus.

Letztere, v.a. zu nennen sind westlicher Marxismus und neue Marx-Lektüre, arbeiten - meist jenseits institutionalisierter, kumulativer Forschungsprozesse, von isolierten Akteuren im Stile eines „Untergrund-Marxismus“[1] vollzogen - die ‘esoterischen’ Gehalte der Marxschen Gesellschaftsanalyse und -kritik heraus.

Dabei müssen an dieser Stelle zur Charakterisierung der beiden Lesarten einige stark verkürzte und auf wenige Aspekte begrenzte Thesen genügen. Insbesondere von dem zuerst seitens Karl Korsch formulierten anspruchsvollen Vorhaben einer „Anwendung der materialistischen Geschichtsauffassung auf die materialistische Geschichtsauffassung selbst“[2], das über eine bloße ideengeschichtliche Darstellung sowie theorieimmanente Kritik hinausgelangt und ideologiekritisch den Zusammenhang von historischen Praxisformen und theoretischen Marxismusformationen  in den Blick nimmt, muss hier vollends abgesehen werden. Auf eine gesonderte Behandlung der generell marx-/ marxismuskritischen Lesarten kann hier insofern verzichtet werden, als das deren Marx-Bild meist vollständig mit dem der traditionellen Marxisten übereinstimmt[3].

Ich beginne also mit dem hegemonialen Deutungsmuster des traditionellen Marxismus und werde erst am Ende meiner Ausführungen einige positive Bestimmungen dessen folgen lassen, was ich für die systematischen Grundintentionen des Marxschen Werks selbst halte. Dies v.a. darum, weil erst im Durchgang durch die Lernprozesse von westlichem Marxismus und neuer Marx-Lektüre eine differenzierte Lesart des Marxschen Werks gewonnen werden kann.

 

II. Zwar wird der BegriffMarxismus zur Kennzeichnung der Marxschen Theorie wahrscheinlich zuerst im Jahre 1879 vom deutschen Sozialdemokraten Franz Mehring verwendet[4] und setzt sich als Kampfbegriff von Kritikern wie Verteidigern der ‘Marxschen Lehre’ erst Ende der 1880er Jahre durch[5], doch die Geburtsstunde einer ‘Marxschen Schule’ (Kautsky) wird einhellig auf das Erscheinen des „Anti-Dühring“ von Friedrich Engels im Jahre 1878 und die darauf folgende Rezeption dieses Werks v.a. seitens Karl Kautsky, Eduard Bernstein u.a. datiert.[6] Engels’ Schriften - auch wenn in ihnen die Begriffe ‘Marxismus’ oder ‘dialektischer Materialismus’, die Selbstetikettierungen der traditionellen Lesarten, noch nicht auftauchen - liefern ganzen Generationen von Lesern, Marxisten wie Anti-Marxisten, die Interpretationsmuster, durch die hindurch das Marxsche Werk wahrgenommen wird. Insbesondere die Rezension von Marx’ „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ (1859), die Spätschrift „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“ (1886) oder der Nachtrag zum dritten Band des „Kapital“ (1894/95) erlangen eine kaum zu überschätzende Wirkungsgeschichte. Allen voran aber wird der „Anti-Dühring“ zum Lehrbuch der Marxschen Theorie sowie zur positiven Darstellung einer ‘marxistischen Weltanschauung’ stilisiert: für Kautsky „gibt es kein Buch, das für das Verständnis des Marxismus so viel geleistet hätte wie dieses. Wohl ist das Marxsche ‘Kapital’ gewaltiger. Aber erst durch den ‘Antidühring’ haben wir das ‘Kapital’ richtig lesen und verstehen gelernt.“[7] und für Lenin ist es eines der „Handbücher jedes klassenbewussten Arbeiters“[8].

Es vollzieht sich dabei etwas, das für die Geschichte ‘des’ Marxismus allgemein kennzeichnend sein wird: der/ die Initiatoren des theoretischen Korpus erachten es „nicht für nützlich [...] selbst als Namensgeber in Erscheinung zu treten [...] die Eponyme sind nicht die wirklichen Sprecher.“[9]  Der Marxismus ist in mehrerlei Hinsicht Engels’ Werk und von daher eigentlich ein Engelsismus. Hier seien nur zwei Punkte genannt, an die eine ideologisierte und restringierte Marx-Rezeption anknüpfen konnte:

 

1. Die ontologisch-deterministische Tendenz:

Der wissenschaftliche  Sozialismus wird konzipiert als ontologisches System, „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs“[10]. Materialistische Dialektik fungiert hier als „Wissenschaft von den allgemeinen  Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens“[11]; die Natur dient Engels dabei als „Probe auf die Dialektik“[12]. Eine falsche Analogisierung historisch-gesellschaftlicher Prozesse mit Naturphänomenen wird allein schon dadurch vorgenommen, dass in der Engelsschen Erläuterung der Grundzüge der Dialektik gerade die zwischen Subjekt und Objekt fehlt. ‘Negation der Negation’ oder ‘Umschlag von Quantität in Qualität’ werden im Wechsel von Aggregatzuständen des Wassers oder der Entwicklung eines Gerstenkorns ausgemacht. Dialektik soll gegen eine statische Betrachtungsweise das ‘Werden, die ‘Vergänglichkeit’ allen Seins aufzeigen[13], sie wird rückgebunden an traditionelle bewusstseinsphilosophische Dichotomien, wie die sog. ‘Grundfrage’ der Philosophie, ob im Verhältnis von ‘Denken und Sein’ diesem oder jenem das Primat zukomme[14] , wird zerfällt in „zwei Reihen von Gesetzen“[15], in die ‘objektive’ und  die ‘subjektive’ Dialektik, wobei letztere lediglich als passives Abbild der ersteren gefasst wird.[16] Der naive Realismus, der später von Lenin[17] u.a. systematisierten Widerspiegelungstheorie, die gerade dem verdinglichten Schein der Unmittelbarkeit eines gesellschaftlich Vermittelten, dem Fetischismus des An-sich-seins eines nur durch einen historisch bestimmten menschlichen Handlungszusammenhang hindurch Existierenden verfällt, wird schon hier begründet. So „von den Dingen auf das Bewusstsein und vom Bewusstsein auf die Dinge verwiesen“[18], ist der Begriff der Praxis, der der subjektiven Vermitteltheit des Objekts, sind auch ideologiekritische Überlegungen in diesem Paradigma kaum noch unterzubringen. Freilich finden sich auch noch in den Schriften des späten Engels Ambivalenzen und praxisphilosophische Motive[19], die von den Epigonen weitgehend getilgt werden. Dennoch ebnet Engels, den Naturalismus[20] und Szientismus seiner Epoche bündelnd, durch die Akzentverschiebung von einer Theorie gesellschaftlicher Praxis hin zu einer kontemplativ-widerspiegelungstheoretischen Entwicklungslehre, den Weg zu einer mechanizistischen und fatalistischen Auffassung des historischen Materialismus.

 

Der vulgäre Evolutionismus kann in der europäischen Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts als nahezu ubiquitäres Phänomen gelten[21]. Nicht allein für Kautsky, Bernstein und Bebel stehen deshalb der deterministische Entwicklungsbegriff und die Revolutionsmetaphysik einer providentiellen Mission des Proletariats[22] im Zentrum der Marxschen Lehre: die Menschheit ist demnach einem ‘naturwissenschaftlich konstatierbaren’ Automatismus der Befreiung unterworfen. Was sich hier im modernen szientistischen Gewand eines Gesetzesfetischismus präsentiert, ist schließlich nichts anderes als eine traditionelle Geschichtsmetaphysik mit sozialistischem Vorzeichen, die Affirmation der von Marx kritisierten Verkehrung von Subjekt und Objekt: Einem hinter dem Rücken der Akteure sich vollziehenden Prozess wird ein moralisch qualifiziertes Ziel zugeordnet. Im Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie wird dieser revolutionäre Attentismus[23] schließlich auch auf parteioffizieller Ebene als konsequenter Marxismus festgeschrieben: Aufgabe der Partei ist es, für ein auch ohne sie ‘naturnotwendig’ eintretendes Ereignis gewappnet zu sein, „nicht die Revolution zu machen, sondern sie zu benutzen.“[24]

Die ontologische Ausrichtung und der enzyklopädische Charakter der Engelsschen Erwägungen befördern zudem die Tendenz zur Auslegung des wissenschaftlichen Sozialismus als umfassende proletarische Weltanschauung. Lenin schließlich wird die ‘Lehre von Marx’ als ‘proletarische Ideologie’ und Religionsersatz präsentieren, als „allmächtig(e)“, „in sich geschlossen(e) und harmonisch(e)“ Doktrin, die „den Menschen eine einheitliche Weltanschauung gibt“[25]. Dementsprechend wird auch der negative Ideologiebegriff zur Kategorie für die Seinsbestimmtheit des Bewusstseins überhaupt neutralisiert.

 

Alle diese Entwicklungen, die unzweifelhaft den Charakter einer theoretischen Regression annehmen, kulminieren schließlich im von Abram Deborin und Stalin ausgearbeiteten ML. Gilt schon für Lenin, trotz aller Betonung des Politischen, der Marxismus als „inhaltsreichere(...) Entwicklungslehre“, die auch auf Brüche und Sprünge in Natur und Gesellschaft aufmerksam macht[26], so wird diese naturalistisch-objektivistische Strömung im ML zur Staatsdoktrin erhoben: Die zentrale Argumentationsfigur lautet dabei: ‚Was für die Natur gilt, muss auch für die Geschichte gelten’ bzw. ‚die Natur macht Sprünge also auch die Geschichte’. Politische Praxis versteht sich dabei als Vollzug eherner historischer Gesetze. Perfektioniert ist diese ‚schlagende’ Logik in Josef Stalins über Jahrzehnte hinweg für die marxistische Theoriebildung des Ostblocks maßgebender Schrift ‚Über dialektischen und historischen Materialismus’: Der historische Materialismus steht für die ‘historische Abteilung’ eines weltanschaulichen Systems i.S. einer ‘Anwendung’ und ‘Ausdehnung’ ontologischer Leitsätze auf die Gesellschaft, die einen epistemologischen Essentialismus (eine Abbildtheorie, die als DiaMat ‘Sein’ und ‘Bewusstsein’ unabhängig vom Praxisbegriff thematisiert) und sozialtheoretischen Naturalismus (eine vom menschlichen Handeln unabhängige Entwicklungslogik, die von der Partei als oberstem Sozialtechnologen ‚bewusst angewendet’ oder ‚beschleunigt’ wird[27]) impliziert.[28]

 

 

2. Die historizistische Deutung der formgenetischen Methode:

Wenn der Leninsche Satz, nach einem halben Jahrhundert habe „kein Marxist Marx begriffen“[29] (der in diesem Fall allerdings auch auf ihn selbst zutrifft), für einen Sachverhalt volle Gültigkeit beanspruchen darf, dann für den der Interpretation der Kritik der politischen Ökonomie. In der Deutung der Marxschen Wertformanalyse als historische Darstellung eines ‘einfachen Warentauschs’ bis hin zum kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnis, „nur entkleidet der historischen Form und der störenden Zufälligkeiten“[30], hat Engels zweifellos die nachhaltigste und untergründigste Wirkung auf die marxistische Orthodoxie ausgeübt. Hier noch wesentlich stärker als in der objektivistischen Fassung des historischen Materialismus ist der Marxismus ein Engelsismus[31], wird die Marxsche Ökonomiekritik in eine avanciertere Form der ökonomischen Klassik und ihrer substantialistischen werttheoretischen Prämissen umgedeutet. ‚Historizistisch’ meint also keineswegs, dass dieser Ansatz die kapitalistischen Formen des gesellschaftlichen Reichtums als historisch-spezifische dechiffriert. Im Gegenteil: er impliziert gerade eine naturalistische Deutung dieser Formen, angefangen bei der Wertsubstanz abstrakte Arbeit, die als quasi-physiologische Größe verstanden wird, die sich in Produkten vergegenständlicht. Bereits Kautsky vertritt explizit die Engelssche Position: Für ihn ist ‚Das Kapital’ von Marx ein historiographisches Werk: „Es war Marx vorbehalten, das Kapital als historische Kategorie zu erkennen und seine Entstehung an der Hand der Geschichte nachzuweisen, statt sie aus dem Kopfe zu konstruieren.[32] Bis in die 60’er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein wird diese Lesart nahezu unwidersprochen tradiert und bietet in Verbindung mit Engels’ (wiederum Hegel entnommener) Formel von der Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit und  dessen Parallelisierung von Naturgesetzen und gesellschaftlichen Prozessen, einem sozialtechnologischen Emanzipationskonzept Nahrung, dessen Kernaussage lautet: ‚Die im Kapitalismus anarchisch und unkontrolliert wirkende gesellschaftliche Notwendigkeit (v.a. das Wertgesetz) wird, mittels des Marxismus als Wissenschaft von den objektiven Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft, im Sozialismus planmäßig verwaltet und bewusst angewandt.’ Nicht das Verschwinden der kapitalistischen Formbestimmungen, sondern ihre alternative Nutzung  kennzeichnet diesen ‚adjektivischen Sozialismus’(R. Kurz) und seine ‚sozialistische politische Ökonomie’.[33]

 

In Anbetracht dieser (nur grob angedeuteten) Rezeptionsgeschichte, könnte man davon sprechen, der Marxismus in der hier präsentierten Form sei das Gerücht über die Marxsche Theorie, ein Gerücht das von den meisten ‘Marx’-Kritikern dankbar aufgenommen und nur mit einem negativen Vorzeichen ausgestattet worden ist. Freilich macht es sich eine solche Behauptung, so zutreffend sie auch insgesamt sein mag, zu einfach, indem sie bestimmte Abgrenzungen gegenüber der dominanten Doktrin, die sich gleichwohl als Marxismen verstehen, nicht wahrnimmt, als auch die Fehlinterpretationen generell als der Marxschen Theorie vollkommen äußerliche betrachtet, mögliche Inkonsistenzen und Theorie-Ideologie-Ambivalenzen bei Marx selbst von vornherein ausschließt. Zur Klärung dieser Frage wird ein Blick auf die in der sog. Rekonstruktionsdebatte erarbeitete differenzierte Lesart der Marxschen Texte nützlich sein.

Insofern soll hier der traditionelle Marxismus vorwegnehmend eher als Ausarbeitung, Systematisierung und Dominantwerden der Ideologiegehalte im Marxschen Werk - im Rahmen der Rezeption seitens Engels und Epigonen -  begriffen werden. 

Praktischer Einfluss jedenfalls war bisher nahezu ausschließlich diesen restringierten und ideologisierten Deutungen der Marxschen Theorie als Geschichtsdeterminismus oder proletarische Politikökonomie beschieden.

 

III. Die Formation eines ‘westlichen Marxismus’[34] geht aus der Krise der sozialistischen Arbeiterbewegung im Gefolge des ersten Weltkrieges (Zerbrechen der 2. Internationale an der Politik der ‘Vaterlandsverteidigung’, Scheitern der Revolutionen in Mittel- und Südeuropa, Entstehen faschistischer Kräfte usw.) hervor. Hier sind es v.a. Georg Lukacs und Karl Korsch, deren 1923 veröffentlichte Schriften paradigmatischen Charakter annehmen. V.a. Lukacs gilt als erster marxistischer Theoretiker, der auf gesellschaftstheoretisch-methodologischer Ebene die bis dahin geradezu selbstverständliche Annahme der Identität von Marxscher und Engelsscher Theorie in Frage stellt.[35] Im Zentrum seiner Kritik steht die Ausblendung der Subjekt-Objekt-Relation bei Engels sowie dessen Konzept einer Dialektik der Natur[36], an der sich der Fatalismus des Marxismus der 2. Internationale orientiert. Gegen dessen Ontologisierung des historischen Materialismus zu einer kontemplativen Weltanschauung verstehen Lukacs, wie der westliche Marxismus insgesamt, den Marxschen Ansatz als kritisch-revolutionäre Theorie gesellschaftlicher Praxis. Gegen die szientistische Rede von den ‘objektiven Entwicklungsgesetzen’ des geschichtlichen Fortschritts werden die Ideologiekritik des verdinglichten Bewusstseins, die Dechiffrierung der zur ‘zweiten Natur’ erstarrten kapitalistischen Produktionsweise als historisch-spezifische Form sozialer Praxis, die Betonung der Revolution als kritischer Akt praktischer Subjektivität gesetzt.[37] Selbstbezeichnungen wie ‘Philosophie der Praxis’ (Gramsci) oder ‘kritische Theorie der Gesellschaft’ (Horkheimer) stellen deshalb auch keine bloßen Tarnwörter oder begriffliche Äquivalente für die parteioffizielle Lehre dar, sondern verdeutlichen einen Lernprozess, in dem „kritisches, auf Handeln zielendes Denken Marxscher Herkunft neu entsprungen ist.“[38]. Nimmt der westliche Marxismus zunächst noch die aktivistischen Impulse der russischen Oktoberrevolution positiv auf, so wenden sich seine bedeutendsten Vertreter schon frühzeitig gegen die Doktrin des Leninismus, v.a. dessen Fortschreibung des sozialtheoretischen Naturalismus  und  seine falsche Universalisierung der Erfahrungen der russischen Revolution.[39] Für ersteres mag als Beispiel Georg Lukacs’ Kritik an Bucharins „Theorie des Historischen Materialismus“ dienen. In dieser wirft er Bucharin vor, mit seinen Konzepten des Primats der Produktivkraftentwicklung und der bruchlosen Anwendbarkeit naturwissenschaftlicher Methoden auf die Gesellschaft  werde seine Theorie fetischistisch, verwische die „qualitative Differenz“ der Gegenstandsbereiche von Natur- und Sozialwissenschaften, erhalte den „Akzent einer falschen ‚Objektivität’“ und verkenne die Kernvorstellung des Marxschen Verfahrens, nämlich die Zurückführung „sämtliche(r) Phänomene der Ökonomie (...) auf gesellschaftliche Beziehungen der Menschen zueinander“.[40]  

Die revolutionsstrategische Festlegung auf den Weg der Oktoberrevolution kritisiert exemplarisch Antonio Gramsci in seinen Gefängnisheften. Gramsci begegnet dem Etatismus der 3. Internationale mit seiner Hegemonietheorie, die den ‚Bewegungskrieg’ des frontalen Angriffs auf den repressiven Staatsapparat als für die modernen westlichen Kapitalismen unbrauchbare Revolutionsstrategie ablehnt. Die Zivilgesellschaft stellt nach Gramsci in diesen Sozialformationen eine labyrinthische Struktur von Apparaten dar, in denen Denk- und Verhaltensmuster generiert werden, die ein durch großpolitische Aktionen nicht zu brechendes Beharrungsvermögen aufweisen. Das russische Revolutionsmodell musste im Westen v.a. deshalb scheitern, weil der Glaube an die Universalisierbarkeit der Erfahrungen der Bolschewiki mit einem zentralistisch-despotischen Zarismus zur Ausblendung der Relevanz ideologischer Vergesellschaftung über zivilgesellschaftliche Apparate und deren Effekt, die Unterwerfung in Form der Selbsttätigkeit, führte. Mit dem Versuch der sozialpsychologischen Ergründung noch der triebstrukturellen Grundlagen der Reproduktion einer ‚unvernünftigen Gesellschaft’, v.a. in Form von autoritären und antisemitischen Haltungen, erreicht allerdings erst die Frankfurter Kritische Theorie ein Reflexionsniveau, das von anderen Vertretern und Richtungen des westlichen Marxismus nicht erreicht wird.[41] Denn gerade die ‚irrationale’, emotionale Dimension sozialer Praxis, wie die soziale Dimension des Triebhaften bleibt in diesen Ansätzen unthematisiert.

Mit der Propagierung des Sozialismus in einem Land, der Bolschewisierung der westlichen KPen und der Verordnung des ML als Leitideologie der dritten Internationale seit Mitte der 20er Jahre beginnt die für den westlichen Marxismus charakteristische Isolation seiner Vertreter: weder politischer Einfluss noch (mit Ausnahme des Frankfurter Instituts für Sozialforschung vielleicht) institutionelle Grundlagen für eine normalwissenschaftliche Praxis sind gegeben. Was diese Formation des Marxismus als intellektuellen Lernprozess auszeichnet - seine Wahrnehmung des Hegelschen Erbes und des kritisch-humanistischen Potentials in der Marxschen Theorie, die methodologische Orientierung, die Sensibilisierung für sozialpsychologische und kulturelle Phänomene im Zusammenhang mit der Frage nach den Ursachen für das Scheitern der Revolution im ‘Westen’[42] - wird im Rahmen dieser Konstellation zur Quelle eines neuen Typs restringierter Marx-Auslegung. Diese ist im wesentlichen durch die Ausblendung politik- und staatstheoretischer Probleme[43], v.a. aber durch das Vorherrschen einer „verschwiegenen Orthodoxie“[44] in Fragen der Kritik der politischen Ökonomie gekennzeichnet. Bis in die Mitte der 60er Jahre hinein scheint es daher keinen westlichen Marxisten zu geben, der seine Auseinandersetzung mit dem traditionellen Marxverständnis auf das Gebiet der Werttheorie ausdehnt.[45] Weiter als diese verschwiegene Orthodoxie gehen schließlich Positionen, die - ohne sich ernsthaft mit der Kritik der politischen Ökonomie auseinandergesetzt zu haben - den ‘humanistischen Kulturkritiker Marx’ dem ‘Ökonomen Marx’ gegenüberstellen[46] oder gar einen ‘Marxismus’ ohne Ökonomiekritik für möglich halten.[47]

 

IV. Erst im Rahmen einer ‘neuen Marx-Lektüre’[48] seit Mitte/ Ende der 1960er Jahre spielen staats- und ökonomietheoretische Probleme außerhalb des ML wieder eine Rolle. Auch diese neue Rezeptionswelle der Marxschen Theorie ist m.o.w. deutlich jenseits von Stalinismus und Sozialdemokratie und nahezu ausschließlich in den ‘westlichen’ Staaten angesiedelt. Ihre Genese fällt mit Phänomenen wie der Studentenbewegung, den ersten Erschütterungen des Glaubens an eine immerwährende, politisch steuerbare Nachkriegsprosperität, dem Aufbrechen des antikommunistischen Konsenses im Rahmen des Vietnamkrieges u.a. zusammen und bleibt trotz ihres radikalen Emanzipationsanspruchs weitgehend auf das akademische Feld begrenzt. Von dieser neuen Marx-Lektüre im weiteren Sinne[49] soll hier eine im engeren Sinne[50] unterschieden werden. Ist jene ein internationales Phänomen, so beschränkt sich diese zunächst weitgehend auf die Bundesrepublik. Bleibt jene noch überwiegend den Engelsschen Dogmen bezüglich der Kritik der politischen Ökonomie verhaftet, so rückt diese in ihren Debatten über Staats-[51] und Ökonomiekritik die Revision der bisherigen historizistischen, bzw. empiristischen Lesarten der Marxschen Formanalyse in den Vordergrund. Ihre theoretischen Bemühungen artikuliert die neue Lesart dabei in Form einer Rekonstruktion der Marxschen Theorie.

 

 

traditionelle Lesart der Marxschen Theorie

 

klassische Annahme des Marxismus der 2. und 3. Internationale

Marx = Engels (einheitliches Paradigma, kohärente Argumentation, geschlossene ‚Weltanschauung’)

 

 

Stufen der kritisch – rekonstruktiven Lesart

 

1. Stufe: z.B.: Backhaus (‚Materialien’ 1. und 2. Teil)

Engels Ü exoterisch vs.

Marx Ü esoterisch

2. Stufe: z.B.: Althusser (‚Kapital lesen’); Backhaus (‚Materialien’)

Marx Ü Metadiskurs exoterisch vs.

Marx Ü Realanalysen esoterisch

3. Stufe: z.B.: Backhaus (‚Materialien’ 3. und 4. Teil); Heinrich (‚Wissenschaft vom Wert’)

Marx Ü Metadiskurs exoterisch/ esoterisch

Marx Ü Realanalysen exoterisch/ esoterisch

 

 

Gegen den klassischen Mythos von der Identität des Marxschen und Engelsschen Paradigmas werden sowohl hinsichtlich des historischen Materialismus als auch der Kritik der politischen Ökonomie Engels’ Kommentare als dem Marxschen Werk weitgehend inadäquate, auf einer rein ‘exoterischen’, traditionelle Paradigmen perpetuierenden, Ebene argumentierende kritisiert. So betont Hans-Georg Backhaus in bezug auf die Werttheorie, die Kritik gelte einer „Interpretationsprämisse, die noch bis vor kurzem zu den wenigen unumstrittenen Bestandteilen der marxistischen Literatur zählte und unangefochten die Rezeptionsweise der Marxschen Werttheorie strukturierte: der von Engels ausgelösten Fehlinterpretation der ersten drei Kapitel des Kapital als Wert- und Geldtheorie der von ihm so getauften ‘einfachen Warenproduktion.“[52]

Backhaus geht davon aus, „dass von diesem fundamentalen Irrtum her die marxistische Werttheorie das Verständnis der Marxschen Werttheorie blockieren musste.“[53]

Werden auf dieser Ebene also zunächst Marxsche und marxistische Theorie unterschieden, so wird im weiteren Argumentationsgang das metatheoretische Selbstverständnis von Marx problematisiert. Schon bei Louis Althusser wird mit Hilfe einer ‘symptomalen’, gegen eine subjektzentriert-intentionalistische Hermeneutik gerichteten, Lektüre konstatiert, dass wir es im Marxschen Werk mit einer in der theoretischen Praxis der Analyse des Kapitalismus vollzogenen wissenschaftlichen Revolution zu tun haben, die auf der metatheoretischen Ebene von einem dieser Problematik unangemessenen Diskurs überlagert wird.[54] Althusser definiert dabei die Aufgaben einer Rekonstruktion als Abtragen des inadäquaten Metadiskurses und Transformation der in ihm vorherrschenden Metaphern, die als Symptome für die Abwesenheit einer dem wirklichen Vorgehen der Kapitalanalyse angemessenen Selbstreflexion gelesen werden, in Begriffe. Im Unterschied zu Althusser und seiner dualistischen Fassung des Verhältnisses von Real- und Erkenntnisobjekt[55], wird dieser Sachverhalt von der Rekonstruktionsdebatte im theoretischen Rahmen der Marxschen Ideologiekritik formuliert: Marx unterscheidet eine ‘esoterische’ von einer ‘exoterischen’ Ebene in den Werken der klassischen politischen Ökonomie. Finden sich in ersterer Einsichten in den gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhang der bürgerlichen Produktionsweise, so begnügt sich letztere mit einer unvermittelten Beschreibung und Systematisierung der objektiven Gedankenformen des Alltagsverstands der Akteure, bleibt im verdinglichten Schein der Unmittelbarkeit tatsächlich gesellschaftlich vermittelter Phänomene befangen. Die ‘exoterische’ Argumentation lässt sich also nicht psychologistisch auf subjektive Unzulänglichkeiten oder gar bewusste Verfälschungsabsichten des Theoretikers zurückführen. Sie resultiert aus einer bestimmten Denkform (Althusser würde sagen, sie stellt einen von einem Diskurs eingesetzten Blick dar)[56], die systematisches und zunächst unwillkürliches Produkt der Verkehrsformen der kapitalistischen Produktionsweise ist (notwendig falsches Bewusstsein; hier hat uns Althusser nichts mehr zu sagen, die Entstehung des Diskurses muss ihm ewiges Rätsel bleiben). Die Rekonstruktionsdebatte wendet nun also die Unterscheidung esoterisch/ exoterisch auf das Marxsche Werk selbst an.

Schließlich werden auch in der Kritik der politischen Ökonomie und im historischen Materialismus, also in der auf der vorherigen Stufe der Rekonstruktion als unversehrte ‘esoterische’ Schicht angesehenen theoretischen Praxis, ‘exoterische’ Gehalte, begriffliche Ambivalenzen „zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition“[57] aufgewiesen. Das Dogma der Unantastbarkeit der Darstellung der Kritik der politischen Ökonomie im ‘Kapital’ wird endgültig verworfen. An die Stelle der Legende vom linearen Erkenntnisfortschritt Marxens tritt die Feststellung eines komplexen Neben- und Ineinanders von Fort- und Rückschritten in Darstellungsweise und Forschungsstand der Ökonomiekritik, schließlich wird auf die zunehmende Popularisierung der Darstellung der Wertformanalyse von den ‘Grundrissen’ bis zur Zweitauflage des ‘Kapital’ hingewiesen, die, indem sie die formgenetische Methode immer mehr versteckt, auch historisierenden und substantialistischen Lesarten Anhaltspunkte liefert.

 

V. Da im Rahmen dieses Textes nicht genug Raum verbleibt, um auch nur annähernd Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution, interner Lernprozesse, aber auch Rückfälle in traditionelle ökonomische und geschichtsphilosophische Positionen im Marschen Werk zu erläutern, sollen hier nur die von den beiden o.g. marxismusinternen Lernprozessen herausgestellten Punkte kurz erwähnt werden:

 

· Die Marxsche Theorie konstatiert nicht irgendeinen Automatismus der Befreiung, sie ist vielmehr zu begreifen als theoretische Instanz einer über Analyse und Kritik vermittelten Arbeit an der Befreiung vom Automatismus einer irrationalen Vergesellschaftungsweise. Die von Marxisten wie Anti-Marxisten gerne als Beweis wahlweise höchster Wissenschaftlichkeit oder gerade unwissenschaftlicher Prophetie angeführte Behauptung Marx’, er fasse die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise als „naturgeschichtlichen Prozess“[58], ist als kritische Aussage zu verstehen. ‘Natur’, bzw. ‘Naturwüchsigkeit’ sind negativ bestimmte Kategorien für einen Vergesellschaftungszusammenhang, der aufgrund seiner privat-arbeitsteiligen Verfasstheit sich den Akteuren gegenüber als unerbittliche Vernutzungsmaschinerie abstrakter Arbeit, als ihrer kollektiven wie individuellen Kontrolle entzogenes und doch nur durch ihr Handeln hindurch sich reproduzierendes ‘Wertschicksal’ geltend macht.

Die Marxsche Theorie ist „ein einziges kritisches Urteil über die seitherige Geschichte, in der die Menschen sich zu Objekten ihrer blind ablaufenden ökonomischen Dynamik haben herabwürdigen lassen.“[59] Zwar verfällt Marx in den deklamatorischen Teilen seiner Arbeiten immer wieder in einen in Geschichtsphilosophie umkippenden historischen Optimismus, aber dieser ist nicht mehr als ein Residuum, das von seiner wissenschaftlichen Kritik der Geschichtsphilosophie und politischen Ökonomie grundlegend konterkariert wird.[60] Gerade aus diesen Versatzstücken kleistern aber der Marxismus der 2. und 3. Internationale sowie die Gebildeten unter den Marx-Verächtern ein abstruses System eherner historischer Notwendigkeiten zusammen, bis hin zu einem „‘Gesetz der Abfolge der Gesellschaftsformationen’“, das die „‘allgemeine historisch notwendige Tendenz des Fortschritts der Gattung Mensch’“[61] festlege.

 

· die Kritik der politischen Ökonomie, die in Form des Marxschen Spätwerks „den Vergleich mit dem immanenten Anspruch der programmatischen Erklärungen in der Deutschen Ideologie“, nämlich die kapitalistische Gesellschaftsformation in ihrer Totalität darzustellen[62], „nicht aus[hält]“[63], lässt sich als vierfacher Kritikprozess darstellen: sie ist Œ Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer destruktiv-naturwüchsigen Verlaufsform vor dem Hintergrund der durch diese selbst hervorgebrachten  objektiv-realen Möglichkeit ihrer emanzipatorischen Aufhebung[64], Kritik des von diesen Verhältnissen selbst systematisch erzeugten fetischisierten und verkehrten Alltagsverstands der Akteure, Ž Kritik des gesamten, diese gang und gäbe Denkformen unkritisch systematisierenden, theoretischen Feldes der politischen Ökonomie[65] und Kritik utopistischer Sozialkritik, die entweder ein Modell der sozialen Befreiung dem System der kapitalistischen Produktionsweise bloß postulativ entgegenhält oder davon ausgeht, einzelne ökonomische Formen reformatorisch gegen den Gesamtzusammenhang des Systems geltend machen zu können[66].

Das Verfahren der Ökonomiekritik kann als ‘Formentwicklung’ oder ‘ -analyse’ bezeichnet werden. Dazu ebenfalls nur einige provisorische Bemerkungen: Formanalyse zielt auf die Erfassung der spezifischen Gesellschaftlichkeit historisch unterschiedlicher Produktionsweisen. Während ‘bürgerliche’ Ansätze bestenfalls eine Wissenschaft von der Reproduktion der Gesellschaft in bestimmten ökonomischen und politischen Formen betreiben, müssen eine Kritik der politischen Ökonomie wie eine Kritik der Politik als Wissenschaft von diesen Formen konzipiert sein. „Die Ökonomen erklären uns, wie man unter den (...) gegebenen Verhältnissen produziert; was sie uns aber nicht erklären, ist, wie diese Verhältnisse selbst produziert werden.“[67] oder: „Die Nationalökonomie geht vom Faktum des Privateigentums aus. Sie erklärt uns dasselbe nicht.“[68] Die politische Ökonomie operiert auf der Ebene bereits konstituierter ökonomischer Gegenstände, nimmt diese empiristisch als gegeben auf, bzw. kann diese nur zirkulär begründen, ohne deren systematischen Konstitutionsprozess begrifflich zu durchdringen. Formanalyse betreibt dagegen die Entwicklung der Formen (wie Wert, Geld, Kapital, aber auch Recht und Staat) aus den widersprüchlichen Vergesellschaftungsbedingungen der Arbeit, sie „erklärt sie, sie begreift ihre Genesis, ihre Notwendigkeit.“[69]

Sie dechiffriert die scheinbar selbständigen, scheinbar gegenständlich begründeten Formen des gesellschaftlichen Reichtums und des politischen Zwangs der kapitalistischen Produktionsweise als historisch-spezifische Praxisformen.  Form-Entwicklung darf dabei nicht als Nachvollzug einer historischen Entwicklung des Gegenstands verstanden werden, sie meint vielmehr die begriffliche Entschlüsselung des immanenten Strukturzusammenhangs der kapitalistischen Produktionsweise. Die Marxsche Formanalyse ist schließlich immer zugleich Formtheorie der Arbeit (sie fragt, warum dieser Inhalt - die Arbeit - jene Form - den Wert - annimmt) und Fetischtheorie des bürgerlichen Bewusstseins (sie zeigt im Gang der Darstellung, wie in den für den Kapitalismus charakteristischen Formen der Alltagspraxis die Verkennung eben dieser Formen (als Formen) systematisch hervorgebracht wird).

 

Das unvollendete ökonomiekritische ‘Spät’werk von Karl Marx ist konzipiert als Grundlegung der wissenschaftlichen Analyse eines Systems heteronomer Vergesellschaftung. Grundlegung, weil mit der Untersuchung der institutionellen Grund- und ökonomischen Kernstruktur der kapitalistischen Moderne dieselbe noch nicht in ihrer Totalität dargestellt ist. Wissenschaftliche Analyse, weil mit der Aufweisung der Konstitution des repressiven Systemcharakters kapitalistischer Produktionsverhältnisse und ihrer stummen Zwänge[70] noch diese als soziale Formen dechiffriert werden, statt - wie in der politischen Ökonomie - ihren Selbstmystifikationen als Naturformen menschlichen Zusammenlebens überhaupt oder unhintergehbaren evolutionären Universalien zu erliegen. Je nach Theorietradition werden dort nämlich - so beansprucht Marx im Rahmen seiner Darstellung der bürgerlichen Produktionsweise zu zeigen - historisch-spezifische Formen der Vergesellschaftung mit i.w.S. stofflichen Existenzbedingungen konfundiert[71] und damit als der menschlichen Gestaltungs- und Veränderungskompetenz prinzipiell entzogen betrachtet.

Marx’ Kritik der politischen Ökonomie dagegen thematisiert und problematisiert - als Form- und Fetischtheorie zugleich - die Formen bürgerlicher Vergesellschaftung selbst und stellt diese vor dem Hintergrund der realen Möglichkeit des Bruchs mit ihnen zur Disposition.[72]

Statt sich als unmittelbare Handlungsanleitung für revolutionäre Bewegungen zu verstehen, etabliert die Marxsche Theorie eher ein kritisches, desillusionierendes Verhältnis zu Positionen, die von der einen oder anderen Form der bürgerlichen ‘Moderne’ eine Lösung oder zumindest dauerhafte ‘Zivilisierung’ bzw. Einhegung der paradoxen Effekte kapitalistischer Synthesis erwarten. Weder die Beschwörung des Staates noch die des Marktes oder gar der - neuerdings wieder in Mode gekommene - Appell an ‘Bürgertugenden’ und ‘Gemeinsinn’, die die entfremdeten Vergesellschaftungsmächte Staat, Kapital und Zivilgesellschaft grundsätzlich bejahen, aber je nach Provenienz diese oder jene Folge ihres Wirkens beklagen und wahlweise monetaristische, etatistische oder moralistische Therapien empfehlen, nehmen Marx zufolge den Systemcharakter der bürgerlichen Gesellschaftsformation ernst.

Marx entmystifiziert die geschichtsphilosophischen Versprechen der Marktapologeten und bestimmt zugleich die „Grenzen aller Politik“[73] und bloßen Moral[74] vor dem Hintergrund der Analyse eines sich aufgrund seiner privat-arbeitsteiligen Verfasstheit zur selbstreproduktiven Totalität ubiquitärer Fremdbestimmung, zur ‘zweiten Natur’ des Kapitals als ‘automatisches Subjekt’, konstituierenden Handlungszusammenhangs. Er polemisiert gleichsam gegen utopistische Versuche einer abstrakten Negation[75] oder absurden bis terroristischen ‘Selbstkritik’[76] der kapitalistischen Produktionsweise.

Anhang:

 

Übersicht zu den Marxismen

 

wichtige

TheoretikerInnen

zentrale Referenztexte

bei Marx / Engels

Kernvorstellung:

Marxsche Theorie als ...

traditioneller

Marxismus

[Engels], Kautsky,

Bernstein, Mehring,

Labriola, Plechanow u.a.

(= 1. Generation)

Lenin, Luxemburg,

Trotzki, Hilferding u.a.

(= 2. Generation)

Engels: Anti-Dühring,

Ludwig Feuerbach,

Rezension zur KrpÖ

1859 u.a. Marx :

Kapital Bd. 1 - Kapitel

24.7, Vorwort zu KrpÖ

1859, Manifest (M/E)

geschlossene

proletarische Welt-

anschauung und Lehre

der Evolution von Natur

und Geschichte

(‚Werden und

Vergehen’)

westlicher

Marxismus

Lukacs, Korsch, Bloch,

Frankfurter Schule,

Gramsci, Lefebvre,

Praxis-Gruppe u.a.

Marx: Thesen über

Feuerbach, Ökonom.-

phil. Manuskripte 1844,

Deutsche Ideologie (M/E) u.a.

kritisch-revolutionäre

Theorie gesellschaft-

licher Praxis

(‚subjektive Vermittelt-

heit des Objekts’)

neue

Marx-Lektüre

Backhaus, Reichelt,

Kittsteiner, Heinrich,

SOST, Vertreter der

Staatsableitung u.a.

Marx: Grundrisse,

Kapital Bd. 1 Erst-

auflage, Urtext, Resultate, u.a.

 

konsequente

Dechiffrierung und

Kritik der Formen

kapitalistischer

Vergesellschaftung

(‚Formentwicklung und -

kritik’)

 

 

Literatur

 

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[1] Labica (1986), S. 113

[2] Korsch (1993), S. 375

[3] Abgesehen von den ganz radikalen Varianten einer ideologischen Kriegsführung, der es nicht einmal um den Wortlaut ihres Hassobjektes zu tun ist; als jüngstes Beispiel soll hier der Verweis auf Stephane Courtois’ - von Ernst Nolte und Francois Furet - entlehnte These vom Marxismus als für den NS vorbildliche Vernichtungsideologie genügen. Siehe dazu Schmid (1998)

[4] Vgl. Walther (1982), S. 948f.

[5] Vgl. ebd., S. 944

[6] Vgl. u.a. ebd., S. 947; Steinberg (1979), S. 22f.; Stedman Jones (1988), S. 234; Liedman (1997), Sp. 384

[7] Karl Kautsky zit. nach Stedman Jones (1988), S. 234f.

[8] Lenin (1965), S. 4

[9] Labica (1986), S. 17. Im Marxismus verschwindet Engels hinter Marx, im Leninismus Stalin hinter Lenin

[10] Engels (1975b), S. 307

[11] Engels (1975a), S. 132, vgl. auch S. 11 u.a.

[12] Ebd., S. 22

[13] Vgl. Engels (1984), S. 267

[14] Vgl. ebd., S. 274

[15] Ebd., S. 293

[16] Vgl. Engels (1975b), S. 481

[17] V.a. in ‚Materialismus und Empiriokritizismus’, das vom ML neben dem Anti-Dühring zum klassischen Lehrbuch des dialektischen Materialismus stilisiert wird. Marxismus wird hier zur Ideologie im strengen Marxschen Sinne: zur Systematisierung der gang und gäbe Denkformen des verdinglichten Alltagsverstands. Allerdings verlässt Lenin das Terrain einer kontemplativen Anordnung von Subjekt und Objekt im Rahmen seiner Hegel-Lektüre teilweise wieder, indem er erkennt: „Das Bewusstsein des Menschen widerspiegelt nicht nur die objektive Welt, sondern schafft sie auch.“  (Lenin (1973), S. 203) 

[18] Sohn-Rethel (1978), S. 114

[19] So z.B. in Engels (1984), S. 296f.; (1975a), S. 264 oder in den späten Briefen an Schmidt, Bloch, Mehring und Borgius

[20] Der bei Engels wirksame Naturalismus wird hier nicht im Sinne eines Biologismus verstanden, der gesellschaftliche Prozesse schlicht auf natürliche reduziert (dagegen hat Engels selbst polemisiert (vgl. u.a. (1975b), S. 565)), sondern i.S. eines Determinismus sowie einer falschen Analogisierung natürlicher und sozialer Prozesse

[21] Vgl. dazu die instruktive Studie von Steinberg (1979), insbes. S.45ff. u. 63ff. Über eine Fetischismuskritik hinausgehende, sozialgeschichtliche Erklärungsansätze dafür bieten u.a. ders., 145-150;  Groh (1974), S. 58-63; Negt (1974); Gramsci (1995), S. 1386f.

[22] Vgl. dazu kritisch Mohl (1978), Sieferle (1979), Elbe (2002)

[23] Vgl. Groh (1974), S. 36

[24] Karl Kautsky, zit. nach Steinberg (1979), S. 61

[25] Lenin (1965), S. 3f.

[26] Lenin (1960), S. 43

[27] Zur Paradoxie dieser Verknüpfung von Voluntarismus und Determinismus vgl. Taylor (1997), S. 729-731

[28] Es ist gerade der westliche Marxismus, der gegen den ML den nichtontologischen Charakter des Marxschen Materialismus betont. Vgl. dazu u.a. Horkheimer (1988), S. 174: „Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs. Beide sind nicht nur natürlich, sondern durch menschliche Aktivität geformt...“ sowie Schmidt (1993), S. 10-59.

Eine kleine Auflistung der Bestimmung der Marxschen Theorie durch Stalin (1979): Dialektik: eine Diskontinuitäten betonende universelle Entwicklungslogik, die uns lehrt, das alles im Werden und Vergehen begriffen ist;  Materialismus: eine kontemplative Ontologie, die lehrt, dass das Bewusstsein nur ein Abbild des unabhängig und außerhalb seiner existierenden Seins darstellt; historischer Materialismus: Anwendung des DiaMat auf die Geschichte; universalhistorische Gesetze  sind Klassenkampf, auf dem Primat der Produktivkraftentwicklung (causa-sui -Konzept der Produktivkräfte) fußende Dialektik zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen , schließlich das Fortschrittsgesetz der Abfolge der Gesellschaftsformationen

[29] Lenin (1973), S. 170

[30] Engels (1990), S. 475

[31] Zur Kritik an Engels’ Lesart der Marxschen Ökonomiekritik vgl. u.a. Brentel (1989), v.a. Kap. IV.2 u. VII.11

[32] Zit. nach Hecker (1997) (Herv. von mir)

[33] Kommunismus besteht in diesem Rahmen „lediglich in der revolutionierten Rechnungsart der gleichen gesellschaftlichen Formbestimmung der menschlichen Arbeitsprodukte wie in der kapitalistischen Warenwirtschaft“ (Grigat (1997), S. 20). Der angeblich Marxsche Kommunismus regrediert dabei zu einer Art proudhonistischer Stundenzettelei, wie auch Behrens/ Hafner bemerken: „Alle bisherigen Vorstellungen vom Übergang zum Sozialismus rekurrieren auf Modelle unmittelbarer Arbeitswert- und Nutzenrechnung.“ (Behrens/ Hafner (1991), S. 226). Auf die kaum zu überschätzenden Konsequenzen einer prämonetären Werttheorie, wie sie Engels vertritt, für die Sozialismus-/ Kommunismus-Auffassung der marxistischen Parteien, weisen u.a. folgende Autoren in kritischer Absicht hin: Heinrich (1999a), S. 385-392; Kittsteiner (1977), S. 40-47; Rakowitz, (2000)

[34] Der Begriff taucht zwar wahrscheinlich zuerst in einer leninistischen Polemik gegen Lukacs’ Geschichte und Klassenbewusstsein auf (vgl. Walther (1982), S. 968), erlangt aber weder als Kampfbegriff noch als zeitgenössische Selbstbezeichnung der gemeinhin darunter subsumierten Theoretiker (wie Lukacs, Korsch, Bloch, die Frankfurter Schule, Gramsci, Lefebvre u.a.) größere Bedeutung. Hier wird weitgehend der Verwendung des Terminus durch Perry Anderson (1978) gefolgt. So fruchtbar der Begriff des westlichen Marxismus als heuristisches Modell auch sein mag, so klar müssen seine Grenzen aufgezeigt werden (vgl. die Kritik an Anderson bei Haug (1987) und bei Krätke (1996), S. 77). Anderson ist vorzuwerfen, dass er genau das nicht tut

[35] Vgl. Mehringer, H./ Mergner, G. (1973), S. 189 oder Stedman Jones (1988), S. 232

[36] Lukacs (1988), S. 61f.

[37] Ein besonders schönes Beispiel der Kritik des ‘wissenschaftlich’ verbrämten revolutionstheoretischen Fatalismus bietet Bertold Brecht in seinem ‘Me-ti (1967), S.469: „ Aufgrund der Großen Methode, welche die Meister Hü-jeh und Ka-meh gelehrt haben, wird zuviel dahergeredet von der Vergänglichkeit aller Dinge, sagte Me-ti seufzend. Viele halten das schon für sehr umstürzend. Sie drohen den Herrschenden mit dieser Vergänglichkeit. Aber das heißt die Große Methode schlecht angewendet. Sie verlangt, dass man davon spricht, wie gewisse Dinge zum Vergehen gebracht werden können.“). Auf grundlagentheoretischer Ebene wendet sich v.a. Ernst Blochs Konzept eines ‘militanten Optimismus’ gegen den leninistischen Objektivismus. Dieser Optimismus bezeichnet eine „Haltung“ vor der möglichen  sozialistischen Zukunft als einer  „Unentschiedenen, jedoch durch Arbeit und konkret-vermittelte Aktion Entscheidbaren“ (Bloch (1990), S. 229)

[38] Haug (1996), S. 8; zur Kritik der ‘Tarnwortthese’ in bezug auf Gramscis Werk, vgl. Haug (1995), S. 1195-1209

[39] Vgl. u.a.: Lukacs (1974); Korsch (1993); Gramsci (1967)

[40] Zitate der Reihenfolge nach in Lukacs (1974), S. 289, 284, ebd. Sehr klar wird dieser praxisphilosophische Zentralgedanke auch von Kofler dargelegt. Vgl. Kofler (2000), S. 90f.

[41] Vgl. dazu u.v.a. Jay (1976), Rensmann (1998)

[42] Als weitere Charakteristika für den westlichen Marxismus nennt Anderson u.a. den Rückgriff auf die vormarxsche Philosophie zur Klärung der Methode einer kritischen Gesellschaftstheorie; die Einbeziehung zeitgenössischer ‚bürgerlicher’ Theorien; einen esoterischen Schreibstil; eine deutlich von der triumphalistischen Diktion des klassischen Marxismus wie des ML abweichende, eher pessimistische Einschätzung der historischen Entwicklung; eine Vorliebe für Probleme der Ästhetik  usw.

[43] Eine prominente Ausnahme sind Gramscis im faschistischen Kerker entstandene Arbeiten

[44] Habermas (1993), S. 235

[45] Eine Ahnung von dieser Problematik findet sich anscheinend erst in Louis Althussers Beitrag zum 1965 veröffentlichten Sammelband „Lire le Capital“, der aber weitgehend auf einer rein epistemologischen Ebene verbleibt. Vgl. dt. Althusser (1972), v.a. S. 59-93

[46] So z.B. Fromm (1988), S. 9

[47] Dafür stehen die frühen Versuche einer Rekonstruktion des historischen Materialismus seitens Jürgen Habermas

[48] Noch deutlicher als beim westlichen Marxismus muss der tentative und einer sozial- wie ideengeschichtlichen Überprüfung harrende Charakter dieses Begriffs betont werden, dennoch lässt sich mit ihm ein relativ deutlicher Bruch, bzw. Lernprozess noch gegenüber dem westlichen Marxismus fassen

[49] Wie sie von Heinrich (1999b), S. 207ff. und Jaeggi (1977), S. 146 beschrieben wird. Sie wird auch unter dem Label ‘Neomarxismus’ gefasst

[50] Wie sie von Backhaus (1997) definiert wird; vgl. auch Heinrich (1999b), S. 211ff.

[51] V.a. in den 70’er Jahren werden im Rahmen der sog. ‚Staatsableitungsdebatte’ – in klarer Opposition zu den Manipulationstheorien und Staatssubstantialismen des Traditionsmarxismus - Ansätze zu einer Formanalyse und Fetischkritik des modernen Staates formuliert; vgl. dazu u.a. Kostede (1976)

[52] Backhaus (1997), S. 69

[53] Ebd.

[54] Vgl. Althusser (1972), S. 38-51, 65-67

[55] Vgl. ebd., S. 52-55; die Differenz zwischen der strukturalistischen und der kritisch-rekonstruktiven Lesart bleibt nicht auf diesen Punkt beschränkt. Während jene gerade den Hegelianismus als inadäquaten Metadiskurs entlarven will, ist für diese der methodische Bezug auf Hegel gerade der Königsweg zum Verständnis des Marxschen Werks. Dass die kritisch-rekonstruktive Lesart allerdings keineswegs in einem ‚Hegelmarxismus’ aufgeht, zeigen u.a. die Schriften von Jürgen Ritsert, Michael Heinrich u.a.

[56] Vgl. ebd., S. 28

[57] So der Untertitel von Michael Heinrichs Werk: Die Wissenschaft vom Wert, siehe u.a. S. 16-18; vgl. auch Backhaus’ Kritik an seinen eigenen theoretischen Prämissen in den ersten beiden Teilen seiner ‘Materialien’ in: Backhaus (1997), S. 132ff.

[58] Marx (1993), S. 16

[59] Schmidt (1993), S. 35

[60] Vgl. zur Marxschen Kritik an der Geschichtsphilosophie u.a.: Kittsteiner (1980) ; Fleischer (1975); Haug, (1994); Beiträge zur Marx-Engels-Forschung NF (1996); Arndt (1985), v.a. S. 50-76. Arndt stellt so lapidar wie richtig fest: „Eine ‘objektive Logik der Weltgeschichte’ mit einem ‘Subjekt des historischen Prozesses’ ... , die in gängigen Lehrbüchern als historischer Materialismus verkauft wird, bezeichnet nichts anderes als das von Marx kritisierte. Ebensowenig ist er ein Historismus, der Geschichte letztlich in ein Sammelsurium beliebig arrangierbarer Daten und Ereignisse auflöste.“ (65)

[61] G. Stiehler zitiert nach Jaeggi (1977), S. 153; zur dieses als authentische Marxsche Position verkaufenden ‘Marx’-Kritik vgl. nur die einschlägigen Schriften Karl R. Poppers

[62] Vgl. Marx/ Engels (1983), S. 37/ 38

[63] Reichelt (1970), S. 73

[64] Vgl. dazu u.a. Haug (1973)

[65] Vgl. dazu u.a. Heinrich (1999a)

[66] Vgl. dazu u.a. Brentel (1989), v.a. Kapitel V

[67] Marx (1990a), S. 126

[68] Marx (1990b), S. 510

[69] Marx (1961a), S. 296

[70] Vgl. u.a. Marx (1993), S. 765

[71] In vollendeter Form in der von Marx sog. ‘trinitarischen Formel’ der Komponententheorie des Werts, vgl. u.a. Marx (1989), S. 822-839. Vgl. zur modernen neoklassischen Ökonomie: Heinrich (1999a), S. 62-85. Sowohl die klassische als auch die neoklassische Ökonomie zeichnen sich nach Heinrich durch Empirismus, Anthropologismus, Individualismus und Ahistorismus aus

[72] Vgl. dazu auch Demirovic (1997), S. 37f.

[73] Marx (1961c), S. 403

[74] Vgl. die massiven Verballhornungen moralistischer Sozialreformer im Marxschen Werk

[75] Vgl. u.a. Marx (1968), S. 257

[76] Diese Kritiken u.a. am Terror der französischen Revolution (Marx/ Engels (1990), S. 129; Marx (1961b), S. 357), an Proudhons Tauschbank-Vision (u.a. Marx (1983), S. 103ff. u. 174), an Bauers Antisemitismus (Marx (1961b), S. 347ff.; Marx/ Engels (1990), S. 100) oder auch asketisch-arbeitsfetischistischen  Kommunismusvorstellungen (Marx (1990b), S. 534f.) treffen z.T. auch den sich zu Legitimationszwecken auf Marx berufenden Realsozialismus. Die von Marx kritisierten Bestrebungen eines rohen Kommunismus und einer Überpolitisierung der Gesellschaft (die teilweise terroristische Staatshypertrophie und der absurde Versuch einer Planung statt Abschaffung des Marktes, die vor dem historischen Hintergrund der Isoliertheit und Rückständigkeit dieser Gesellschaften kaum verwundern konnten) finden sich eben dort in extremer Weise ausgeprägt.