Michael Heinrich
Die
Wissenschaft vom Wert
Überarbeitete und erweiterte Neuauflage, Münster 1999
Vorwort zur
2. Auflage (1999)
Der Text der Erstauflage des
vorliegenden Buches entstand zwischen 1987 und 1990; er war in mehrfacher Hinsicht
ein Kind seiner Zeit. Die Renaissance des Marxismus, die es in Westeuropa im
Gefolge der Studentenbewegung der 60er Jahre gegeben hatte, war längst
abgeebbt. Zu Beginn der 70er Jahre hatte der Marxismus (der jetzt dem
dogmatischen "Marxismus-Leninismus" der "realsozialistischen"
Länder gegenübergestellt wurde) in der Bundesrepublik nicht nur einen Teil der
Studenten, sondern auch eine ganze Reihe der vor allem in sozialen und pädagogischen
Berufen Beschäftigten sowie viele gewerkschaftlich engagierte Menschen
beeinflußt. Zwar wurde in Diskussionen häufig mit marxistischen Kategorien
operiert, doch trotz vieler Marx-Lektüregruppen und zum Teil auch elaborierten
wissenschaftlichen Debatten, blieb die Rezeption des Marxschen Werks insgesamt
recht beschränkt und einseitig. Vielfach wurden einfach einige Begriffe, die gerade
passend schienen, zur Erklärung aktueller Entwicklungen oder zur
"Entlarvung" des kapitalistischen Systems verwandt, ohne sich jedoch
des Abstraktionsniveaus dieser Begriffe zu versichern oder sich mit dem
argumentativen Kontext auseinanderzusetzen.
Diese selektive
Marxismus-Rezeption ging innerhalb der Linken mit der Erwartung einer raschen
Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse einher. Die Studentenbewegung
und die von ihr ausgelösten Debatten, so wurde angenommen, seien nur der
allererste Anfang: wenn erst einmal die Arbeiterklasse über ihre
"objektiven Interessen" aufgeklärt wäre und wenn sich mit der nächsten
Wirtschaftskrise die Versprechen von Wohlstand und sozialer Sicherheit in Luft
auflösen würden, dann würden sich die gesellschaftlichen Konflikte zuspitzen
und radikale Veränderungen wären nicht mehr aufzuhalten - ein Glaube, den nicht
nur viele Linke teilten, sondern auch eine Reihe der staatstragenden Politiker,
wie die Praxis der Berufsverbote (eingeführt vom sozialdemokratischen
Reformkanzler Willy Brandt) deutlich machte. Aus der Kombination dieser Umbruchserwartungen
mit theoretischen Versatzstücken, aus ganz anderen sozialen und historischen
Kontexten, folgten dann die unterschiedlichsten politischen Strategien: die
Gründung bewaffneter Gruppen nach dem Vorbild der lateinamerikanischen
Stadtguerilla, der Aufbau von Kaderparteien nach leninistischem Muster, die
Bildung revolutionärer Zirkel, die sich innerhalb sozialer Bewegungen engagieren
und diese radikalisieren wollten oder auch der Marsch durch die Institutionen,
um das System von innen her zu verändern.
Als sich in der zweiten Hälfte
der 70er Jahre abzeichnete, daß alle diese Strategien nicht die erhofften
Mobilisierungserfolge bringen würden und daß auch die Weltwirtschaftskrise, die
1974/75 eingesetzt hatte, keine dramatischen politischen Veränderungen mit sich
brachte, daß dafür aber andere politische Bewegungen wie die Ökologiebewegung
und die Frauenbewegung an Bedeutung gewannen, war zunächst das Wort von der
"Krise des Marxismus", das in Frankreich und Italien unter anderen Verhältnissen
entstanden war, in aller Munde und bald darauf zeichnete sich (nicht nur in der
Bundesrepublik, aber hier vielleicht besonders deutlich) eine weitgehende
Abkehr vom Marxismus ab. Die Enttäuschung, die auf die eigenen überzogenen
Erwartungen folgte, wurde jetzt mehr oder weniger umstandslos der Marxschen Theorie
angelastet. Auf die breite, sich oft nur auf eine oberflächliche Rezeption
stützende Akzeptanz des Marxismus in den 70er Jahren folgte in den 80ern eine
ebenso breite Ablehnung, die häufig ähnlich oberflächlich verfuhr.[1]
Oft wurde dabei die Differenz von "links" und "rechts"
gleich mit aufgegeben und als anachronistisch eingestuft.[2]
Innerhalb der etablierten
Wissenschaften, allen voran der Ökonomie, hatte der Marxismus sowieso keinen
guten Stand, war es ihm doch anscheinend nicht möglich gewesen, gewisse formale
Probleme wie etwa die Transformation von Werten in Preise in befriedigender
Weise zu lösen.
Mein Text, der sich vor allem
mit der Marxschen Ökonomiekritik auseinandersetzte, war einerseits gegen die diversen
Verabschiedungen des Marxismus gerichtet. Andererseits hatte ich aber den
Eindruck gewonnen, daß eine Reihe von Kritiken nicht völlig ungerechtfertigt
waren oder auf bloßen Mißverständnissen beruhten. Überhaupt schien mir die
häufige Rede von "Mißverständnissen" oder "Fehlinterpretationen",
mit der den Kritikern von marxistischer Seite aus begegnet wurde, die Probleme
unangemessen zu vereinfachen: auch eine "Fehlinterpretation" muß eine
Grundlage im interpretierten Text haben, ansonsten ist sie nur absurd und dann
auch keine Interpretation mehr (was natürlich auch vorkommt). Eine
differenziertere Auseinandersetzung mit den Marxschen Texten erschien angebracht:
sie sollte zeigen, wo in der Marxschen Ökonomiekritik tatsächlich Inkonsistenzen vorlagen, die Anlaß für
entsprechende Kritiken sein konnten, und in welcher Weise mit solchen
Inkonsistenzen umzugehen sei.[3]
Diesem Anspruch einer
differenzierteren Diskussion kam die seit 1975 erscheinende
historisch-kritische Marx Engels Gesamtausgabe (MEGA) entgegen. Obgleich dieses
Unternehmen unter einem parteipolitischen Vorzeichen stattfand - Herausgeber
waren die Institute für Marxismus-Leninismus in Ost-Berlin und Moskau -
beschränkte sich dessen Einfluß im wesentlichen auf die Einleitungen zu den
einzelnen Bänden (vgl. zur Entstehungsgeschichte dieser zweiten MEGA,
Dlubek 1994). Bereits veröffentlichte aber
auch viele bislang unveröffentlichte Texte und Exzerpte wurden nun entsprechend
den wissenschaftlichen Standards neugermanistischer Editionen publiziert. Dabei
wurde nicht mehr, wie noch in den Marx Engels Werken (MEW) allein die
Wiedergabe der jeweiligen "Fassung letzter Hand" angestrebt, vielmehr
sollte die gesamte Textentwicklung durchsichtig werden, was eine Reihe von Untersuchungen
überhaupt erst möglich machte. Indem die MEGA die Texte von Marx und Engels
nicht als fertige Werke, sondern in ihrem häufig unabgeschlossenen
Entstehungsprozeß präsentiert, trägt bereits die sorgfältige Edition zur
Unterminierung der verschiedenen Dogmatisierungen bei - sofern man das
publizierte Material überhaupt zur Kenntnis nimmt. Letzteres geschah in den
80er Jahren im Osten wie im Westen jedoch nur in beschränktem Maße.
Seit dem Erscheinen der ersten
Auflage dieses Buches hat sich an den Rahmenbedingungen der Diskussion nichts
Grundsätzliches geändert. Nach dem Zusammenbruch des
"Realsozialismus" spitzte sich die Kritik am Marxismus noch weiter
zu, wobei es (von Ausnahmen abgesehen) für die breite Front der Kritiker, in
die sich auch viele ehemalige Linke einreihten, keinen großen Unterschied
macht, ob es sich um den "Marxismus-Leninismus" handelt oder um
Ansätze eines gegenüber dem Realsozialismus kritisch eingestellten
"westlichen Marxismus". Auf der anderen Seite finden sich die
unterschiedlichsten Varianten einer Verteidigung marxistischer Positionen, die
von bloß dogmatischen Versicherungen bis zu äußerst reflektierten Positionen
reicht. Gemeinsam ist beiden Lagern, daß sie mit dem Nachweis von
Inkonsistenzen der Theorie und mit Problemen, die bereits in den Grundbegriffen
beginnen, das Ende des Marxismus gekommen sehen. Während nun das eine Lager
meint, durch den Nachweis tatsächlicher oder vermeintlicher Inkonsistenzen die
Marxsche Theorie bereits erledigt zu haben, versucht sich das andere Lager
darin, zu widerlegen, daß es solche Probleme überhaupt gibt, etwa mit dem
Argument, daß das, was dem Kritiker als Widerspruch erscheint, lediglich die
widersprüchliche Struktur des Gegenstandes (bzw. seiner Behandlung in der bürgerlichen
Ökonomie) referiere. Gegenüber beiden Positionen halte ich daran fest, daß das Aufzeigen
von Inkonsistenzen nicht mit dem Ende der Kritik der politischen Ökonomie
gleichzusetzen ist. Für die analytische Kraft wie auch für die politische
Bedeutung des Marxismus spielt es dagegen eine entscheidende Rolle, wie man mit
diesen Inkonsistenzen umgeht.
Parallel zu diesen Debatten
wurde in der MEGA, die das Ende des Realsozialismus überlebte und inzwischen
von der parteipolitisch unabhängigen Internationalen Marx Engels Stiftung in
Amsterdam herausgegeben wird, immer wieder neues Material publiziert, so etwa
das Marxsche Manuskript zum dritten Band des Kapital. Erstmals wurde jetzt die Vielzahl der von Engels
vorgenommenen Textveränderungen deutlich, was eine erneute Debatte über das
(theoretische) Verhältnis von Marx und Engels ausgelöst hat.
In dieser Neuauflage habe ich
mich zum einen darum bemüht, die kritischen Einwände, die gegen meine Interpretation
der Kritik der politischen Ökonomie erhoben wurden, so weit wie möglich zu
berücksichtigen.[4]
Da ich nach wie vor an meiner grundlegenden These - daß bereits die Grundbegriffe
der Marxschen Ökonomiekritik eine Ambivalenz enthalten, insofern sie einerseits
einen Bruch mit dem theoretischen Feld der klassischen politischen Ökonomie
ausdrücken, ihm aber stellenweise immer noch verhaftet sind - festhalte (und
sie durch das neu vorliegende Material bestätigt sehe), dienen die meisten der
am ursprünglichen Text vorgenommenen Veränderungen der Verdeutlichung und
Präzisierung meiner Argumentation. Dies gilt vor allem für die stark
überarbeiteten Kapitel sechs und sieben (früher fünf und sechs). Allerdings
erschienen mir auch an einer ganzen Reihe von weiteren Punkten Ergänzungen
sinnvoll zu sein, so etwa bezüglich des in der Erstauflage etwas zu schnell
übergangenen Problems des geschichtsphilosophischen Denkens bei Marx;
ausgeweitet wurde auch der Abschnitt über dialektische Darstellung, der jetzt
zusammen mit einer neu aufgenommenen Untersuchung der Aufbauplanänderungen der
Kritik der politischen Ökonomie ein eigenes Kapitel bildet.
Zum anderen habe ich versucht,
das in der MEGA neu erschienene Material, vor allem das Manuskript zum dritten
Band des Kapital in meine Argumentation
einzubeziehen. Dies führte zu einem umfangreichen Abschnitt über Zins und
Kredit sowie einem völlig neuen Kapitel über die Dynamik der kapitalistischen
Produktionsweise, in der ich mich vor allem mit der Marxschen Krisentheorie
auseinandersetze. Dabei stellte sich nicht nur das Problem wie sich die
Ambivalenzen in den Grundkategorien der Kritik der politischen Ökonomie hier
auswirken, es stellte sich auch die Frage, ob die kapitalistische
Produktionsweise im 19. Jahrhundert bereits soweit entwickelt war, daß die von
Marx angestrebte Darstellung ihres "idealen Durchschnitts" -
zumindest was Kredit und Krise angeht- überhaupt schon möglich war.
Anregungen und wertvolle Kritik
habe ich von mehr Menschen erfahren als ich hier nennen kann. Besonders danken
möchte ich all denjenigen, mit denen ich die Thesen dieses Buches in Seminaren
und bei verschiedenen Veranstaltungen diskutieren konnte. Von ihnen erhielt ich
nicht nur viele wichtige Anregungen, ihr lebhaftes, nicht nur wissenschaftliches,
sondern auch politisches Interesse an der Kritik der politischen Ökonomie war
für mich die wichtigste Ermutigung zur Weiterarbeit.
[1]) Damit soll keineswegs jede
Marx-Kritik vom Tisch gewischt werden, hier geht es in erster Linie um den
Umschwung des intellektuellen Klimas. Allerdings weisen auch die Kritiken am
Marxismus eine erhebliche Spannbreite auf: zwischen dem Vorwurf des ehemaligen
Linksradikalen André Glucksmann, Marx sei der geistige Ahnherr des Archipel
Gulag und Jürgen Habermas' Kritik an den Defiziten des (vorgeblichen) Marxschen
"Produktionsparadigmas" liegen Welten.
[2]) So lautete ein früher Slogan
der Grünen: "Wir sind weder rechts noch links, sondern vorne."
[3]) Auch von anderen wurde in den
80er Jahren eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Kritik der politischen
Ökonomie angestrebt, so z.B. Brentel (1989) oder Rojas (1989). Allerdings
gingen diese und viele andere Untersuchungen von einer im wesentlichen konsistenten Marxschen Theorie aus, die
nur richtig dargestellt werden muß, um den diversen Kritiken begegnen zu können.
[4]) Vor allem die Kritik von
Backhaus/Reichelt (1995) hat einige Unklarheiten meiner Argumentation
aufgedeckt, die ich hier zu beseitigen versuche; ihren zentralen Einwänden kann
ich allerdings nicht folgen (vgl. dazu unten das sechste Kapitel).